Self Tracking: Die Vermessung des Ich

Die Leidenschaft, sich selbst in Daten und Zahlen darzustellen, wächst. Aber lebt es sich damit auch glücklicher?

Düsseldorf. Er will wissen, was er macht, wie es ihm geht, „ich will mich besser verstehen“. Deshalb macht Florian Schumacher bei der Quantified Self (QS)-Bewegung mit, sammelt mit Hilfe technischer Geräte Daten über sich, wertet sie aus und zieht gegebenenfalls Konsequenzen daraus — in der QS-Sprache: Self Tracking. Alles ist möglich, wenn es darum geht, das Leben zu optimieren, glücklicher und zufriedener zu werden.

Wie so vieles kommt auch diese Bewegung aus den USA. 2007 starteten amerikanische Journalisten die Website quantifiedself.com. Im folgenden Jahr versammelten sich erstmals Gleichgesinnte, um ihre Self-Tracking-Erfahrungen zu diskutieren. Die Ergebnisse wiederum wurden ins Netz gestellt — der Anfang einer mittlerweile weltweiten QS-Community, digital wie analog.

In Europa trafen sich Anhänger erstmals 2011 in Amsterdam — vom Blutzucker bestimmenden Patienten bis zum Puls messenden Hobbysportler. Mit dabei: Florian Schumacher. „Ich hatte die Bewegung anderthalb Jahre zuvor im Internet entdeckt und meinen Blog igrowdigital.com gestartet.“ Der Münchener vertritt heute QS in Deutschland; Gruppen gibt es in Berlin, Hamburg, München, Stuttgart, Aachen und Köln.

Der 32-jährige Produktmanager mit eigenem Startup, das sich um Software für Persönlichkeitsentwicklung kümmert, ist vor allem Schritt-Zähler. „Ich laufe viel, erst ab einer Strecke von über 20 Minuten benutze ich überhaupt ein Fahrzeug.“ Ein USB-artiger Stick, der an die Kleidung geklemmt wird, hält jeden Schritt fest; die Auswertung übernimmt der Computer. Ist die Schrittzahl gestiegen, freut sich Schumacher — Motivation für noch mehr Bewegung.

Außerdem überprüft er seine Produktivität, indem er einmal in der Woche die Daten über seine Computeraktivität festhält. So weiß er, wie lange er im Netz war oder welche Seiten er besucht hat. „Indem ich überprüfe, was ich gemacht habe, lerne ich mich besser zu verstehen.“

Eine Art Lebenshilfemodell sei QS, meint Rechtsanwältin Tannaz Shokrian. Die regelmäßige Erfassung von Körperdaten habe sich „in Bereichen wie der Therapie chronisch kranker Menschen oder auch bei Spitzensportlern als essenziell erwiesen“, erklärt die 29-jährige Beraterin für Datenschutz.

„Je mehr Informationen ein Patient über sich zum Arzt mitbringt, desto genauer kann die Diagnose ausfallen“, meint auch Florian Schumacher. Außerdem, so Shokrian, habe QS eine starke soziale Komponente, da sich „Menschen in Gruppen zusammenschließen, ihre Werte austauschen und über Erfolge und Misserfolge diskutieren“.

Besonders angesprochen fühlen sich von QS natürlich die Technikfreaks, die dank schneller Weiterentwicklung von Smartphone und Apps immer bessere Messmethoden erhalten. In Zahlen: 505 Tools listet derzeit quantifiedself.com auf — für die Schlafanalyse ebenso wie für die der Stimmung. Schumacher weiß: „Die Lösungen werden einfacher, bequemer, modischer und massentauglicher.“

Außerdem bedient QS den Kontrolltrieb. „Es entsteht ein allgemeines Hochgefühl, wenn man sich und seinen Körper unter Kontrolle hat. Ein überaus menschliches Bedürfnis. QS suggeriert, dass alles machbar ist — es liegt nur an uns selbst“, meint der Diplompsychologe und Verhaltenstherapeut Michael Thiel. Der 52-jährige Hamburger benennt die Gefahren dieser Einstellung: Wenn das Messen zum Zwang oder zur Sucht wird, wenn Freiheit und Lebensqualität eingeschränkt werden, weil schlechte oder vergessene Werte Panik auslösen, wenn jemand nicht mehr ohne Messgeräte leben kann, dann wird es kritisch.

„Unser Körper ist keine Maschine. Eine flexible Kontrolle ist gut, kein Mensch kann und sollte sich dauernd kontrollieren. Vielmehr sollte man beim Laufen nicht nur zur Pulsuhr gucken, sondern auch die Vögel und die Landschaft wahrnehmen.“ Auch bei der Auswertung ist Vorsicht geboten. Thiel: „Wenn man sich selbst misst und im Internet die eigenen Werte interpretiert, kann das durch Fehldeutungen auch nach hinten losgehen. Besser ist es, wenn man einen erfahrenen Arzt hinzuzieht.“

Weil QS vor allem auch ein Markt ist, interessieren sich für die Datensätze auch App-Entwickler, Sportartikelhersteller, Pharma- und Medizintechnikbranche, Versicherungen, Forschungsunternehmen und der Staat.

Der Datenschutz im WorldWideWeb aber ist löchrig. „QS-Daten sind mobil — meist in einer Cloud — abgelegt, und die Betreiberfirmen der Apps, denen die Daten zur Verfügung gestellt werden, sind in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Datenschutzbestimmungen niedergelassen“, so Tannaz Shokrian, die an einem Datenschutz-Blog (datenschutzbeauftragter-info.de) mitarbeitet. Florian Schumacher wählt deshalb aus, welche Daten er für alle zugänglich ins Netz stellt. „Bestimmte Daten teile ich nur mit Feunden.“

Gleichwohl: Nicht jeder ist so vorsichtig. Manche QS-Anhänger stellen ihre Daten so offen ins Netz, dass sich Pharmaunternehmen direkt an sie wenden und ihnen Medikamente anbieten können. Nichts ist unmöglich.

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