Sütterlin — die (fast) vergessene Schrift

Wie die Alten geschrieben haben, können Junge heute kaum mehr lesen. Senioren bieten sich als Dolmetscher an — für Sütterlin.

Reutlingen. „Mein liebes gutes Mütterlein . . .“ So begann der Brief eines Mannes, den Marianne Geisel einmal übersetzt hat. Die Nachkommen hatten ihn gefunden: Doch lesen konnten sie kein Wort.

Ihr Vorfahre hatte in Sütterlin geschrieben, der Schrift des frühen 20. Jahrhunderts. Die 80-Jährige hat ihnen die Zeilen vorgelesen. „Das war schon arg schön. Solche innigen Worte werden heute ja nur noch selten benutzt“, erzählt sie gerührt.

So geht das häufig in der Sütterlin-Schreibstube in Reutlingen. Wenn die Eltern oder Großeltern gestorben sind, finden die Kinder und Enkel alte Unterlagen. Doch weil heute kaum noch jemand Sütterlin lesen kann, ist Marianne Geisel zu einer Übersetzerin der vergessenen Schrift geworden.

Viele emotionale Texte sind so durch ihre Hände gegangen. Besonders traurig sei ein Kriegstagebuch gewesen, das ein Mann mitbrachte und mit dem er die Stationen seines Vaters im Ersten Weltkrieg nachverfolgen wollte.

Seit zwei Jahren gibt es die Sütterlin-Schreibstube im Treffpunkt für Ältere. „Sonst haben wir Seminare wie ,Hilfe, mein Handy klingelt’, in denen Jüngere den Älteren helfen. Hier ist es genau andersherum: Die Jüngeren profitieren von den Älteren. Das ist ganz toll“, sagt Rose Saur. Die Sozialpädagogin ist für das Programm im Treffpunkt verantwortlich.

Bei besonders unleserlichen Schriften bitten sich die Sütterlin-Dolmetscher gegenseitig um Hilfe. Vor allem die Großbuchstaben seien manchmal schwer zu entziffern, sagt Geisel. Ab und an ist eine Schrift so unleserlich, dass sie die Worte aus dem Zusammenhang entschlüsseln müssen. Als Geisel 1939 bei Schwenningen am Neckar in die Schule kam, schrieb man dort in Sütterlin-Schrift. Geisels Bruder, zwei Jahre später eingeschult, lernte Sütterlin bereits nicht mehr.

„Meine Mutter und ich haben uns in Sütterlin Zettel geschrieben, auf denen stand, wo der Speisekammerschlüssel versteckt war“, erzählt Geisel und lacht. Lebensmittel waren knapp in dieser Zeit und der kleine Bruder hatte immer Hunger.

Geisel sieht das Thema ganz pragmatisch. „Sütterlin ist Vergangenheit. Wir schreiben heute alle Latein und das ist auch gut so“, sagt die 80-Jährige. Was man aber pflegen sollte, sei die deutsche Sprache, findet sie: „Meine Generation ärgert es, dass heute Denglisch gesprochen wird. Ein Flyer zum Beispiel ist einfach ein Faltblatt.“

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