WZ-Leserin erkennt Mutter auf "Stunde-Null"-Foto

Ingeborg Kilders (76) aus Vorst lebte mit ihrer Familie in Berlin, als 1945 das Foto von ihrer Mutter als Trümmerfrau entstand. Die unglaubliche Geschichte hinter dem Foto erzählte sie uns.

Ingeborg Kilders auf dem Schoß ihrer Mutter, mit ihrer Schwester Anita und Bruder Joachim. Hinten der Vater, kurz nach dem Umzug nach Berlin, 1939.

Ingeborg Kilders auf dem Schoß ihrer Mutter, mit ihrer Schwester Anita und Bruder Joachim. Hinten der Vater, kurz nach dem Umzug nach Berlin, 1939.

Foto: Rechteinhaber Familie Kilders/ Bearbeitet von Kurt Lübke

Tönisvorst. Ingeborg Kilders (76) traute ihren Augen nicht, als sie am 2. Januar in unsere Zeitung schaute. Auf dem Titel ein historisches Foto von 1945, Trümmerfrauen, die ein zerstörtes Haus wieder aufbauten. Und mitten unter den Frauen: ihre Mutter. Die unglaubliche Geschichte hinter diesem Bild erzählte sie unserer Zeitung.

WZ-Leserin erkennt Mutter auf "Stunde-Null"-Foto
Foto: Lübke, Kurt (kul)

Am schlimmsten war die Fahrt im Viehwaggon. Die Kälte, die vielen fremden Menschen und der Hunger. Noch heute schmerzen die Zehen, die damals abgefroren sind. Und noch heute kommen Ingeborg Kilders die Tränen, wenn sie davon erzählt. Ingelchen, wie das Nesthäkchen von allen genannt wurde, war gerade sieben, als sie 1945 aus Berlin flüchtete.

Dort hatte sie mit ihrer Schwester, dem Bruder, der Oma und der Mutter den zweiten Weltkrieg verbracht. Eigentlich kamen sie aus Tönisvorst, doch der Vater, der in Berlin studiert hatte, wurde befördert und sollte von der Katholischen Grundschule in Bracht, an der er Rektor war, an eine große Schule in Prenzlauer Berg wechseln. „Das war eine wahnsinnige Beförderung“, erinnert sich Kilders. „Wir sind sofort dorthin gezogen mit der ganzen Familie. Meine Mutter hat Berlin geliebt. Die Kultur, die tollen Gebäude.“

Weil Berlin unter so starkem Beschuss war — dort gingen im zweiten Weltkrieg mehr Bomben nieder, als in jeder anderen Deutschen Stadt — wurden die drei Kinder zusammen mit der Oma nach Ostpreußen geschickt. „Wir wurden bei einer Apothekerfamilie einquartiert. Der Sohn durfte nicht mit uns, den Flüchtlingskindern, spielen“, erinnert sich die heute 76-Jährige.

1945 wurde Kilders Vater - kurz vor Kriegsende - eingezogen und die Familie musste aus der geräumigen Wohnung im Schulhaus an der Ibsenstraße 17 ausziehen. „Wir bekamen dann eine leerstehende, aber voll möblierte Wohnung zugewiesen, wahrscheinlich hatten hier vorher Juden gelebt, denn alles schien total unberührt zurückgelassen.“ Vom Vater gab es kein Lebenszeichen. „Die letzten sechs Monate des Krieges haben wir nur im Keller gelebt“, sagt Kilders.

Dezember 1945, der Krieg war endlich aus, die Familie überglücklich. Stunde Null. „Wir hatten nichts mehr, die Russen beobachteten uns, aber trotzdem war die Stimmung gut.“

Zusammen mit anderen Frauen baute Ingeborg Kilders Mutter die Häuser an der Schönhauser Allee wieder auf. „Sie wurden von den russischen Besatzern eingeteilt, schufteten den ganzen Tag und durften erst gehen, wenn sie entlassen wurden“, erzählt Kilders, die das nur aus Erzählungen ihrer Mutter und der Schwester weiß. „Einmal hatte meine Mutter ihren Personalausweis vergessen. Da musste meine Schwester mitten in der Nacht zur Baustelle und ihn ihr bringen, damit sie nach Hause durfte.“

Auch in ihrer Wohnung lebten etwa 15 Russen, die nichts essen wollten, was Kilders Mutter kochte. „Die hatten Angst, vergiftet zu werden.“ Die damals Siebenjährige erinnert sich aber, dass die Besatzer für ihre Familie mitkochten. „Die hatten ja alles, Butter, Fleisch, das stahlen sie sich zusammen.“ Glück für die Familie, möchte man heute denken, doch die ausgehungerten Mägen vertrugen die fetten Mahlzeiten nicht. „Nach dem Essen hatten wir immer tierische Bauchschmerzen und verbrachten Stunden auf der Toilette.“

WZ-Leserin erkennt Mutter auf "Stunde-Null"-Foto
Foto: DB dpa

Vom Vater wusste man inzwischen, dass er Gefangener der Alliierten im Speziallager im KZ Sachsenhausen war. Unklar war jedoch, wann und ob er entlassen werden würde. „Was sollten wir also weiter in Berlin bleiben“, sagt Kilders. Die Familie wollte zurück in die Heimat nach Tönisvorst.

Und langsam wurde die Zeit knapp. Plötzlich hieß es, nur noch ein Zug geht gen Westen, danach riegeln die Russen alles ab. „Den mussten wir bekommen. Also haben wir alles eingepackt, was wir tragen konnten, einige Wertsachen und eine Nachricht für den Vater bei Verwandten in Berlin gelassen, und sind zum Bahnhof.“

Und dann begann die schlimmste Reise ihres Lebens. Acht Tage dauerte die Fahrt an den Niederrhein. „Ich hatte den ganzen Tornister voller Schwarzbrot, meine Schwester trug das Wasser. Mehr hatten wir nicht.“ Irgendwann bekam jedes Kind dann eine Scheibe Brot abgeschnitten.

„Ich erinnere mich“, sagt Kilders und ihr kommen die Tränen, „dass ich mich richtig schlimm mit meinem Bruder gestritten habe, weil seine Scheibe ein wenig dicker war als meine. Meine Mutter und meine Oma haben die ganze Fahrt geweint.“ Irgendwann hielt der Zug kurz und einige Insassen sprangen herunter, um sich im Dorf warme Suppe zu holen.

„Als sie wiederkamen war der Zug schon losgefahren und sie rannten mit den Schüsseln hinterher. Die ganze schöne Suppe schwappte über und war fort, als sie den Zug erreichten und aufspringen konnten. Es war schrecklich.“

Dazu kam die bittere Kälte des Winters ’45. Die Viehwaggons, in denen die Flüchtlinge saßen, waren zugig und feucht. „Als wir dann in die amerikanische Besatzungszone fuhren, mussten alle aussteigen. Wir wurden von oben bis unten desinfiziert und entlaust. Wir mussten uns nackt ausziehen, in einem kalten großen Haus mit lauter Soldaten.“

Nach weiteren Tagen Fahrt kam die völlig entkräftete Familie in Anrath an — Zuhause, das "Ingelchen" nur aus Erzählungen kannte. Das Haus der Familie in Vorst bewohnten fremde Leute, im Erdgeschoss war die Post eingezogen. Es dauerte fast zwei Jahre, bis die Familie in ihr Haus konnte, weil die Post verlegt wurde. „Bis dahin waren wir bei zwei Cousinen meiner Mutter in Vorst untergebracht.“ Dort wohnten bereits zwei Familien. „Das Haus war voll bis unter die Dachpfannen.“

Die Familien kämpften ums überleben, aber: „Es war uns alles egal, denn wir waren zu Hause.“ Es war das Jahr 1948, Ingeborg Kilders spielte gerade vor dem Haus, als sie einen Mann die Straße hinauflaufen sah. „Er trug ganz schäbige Kleidung und sah schlimm aus, aber ich lief sofort ins Haus und rief meine Mutter: , Mutti, Papa ist wieder da!’“

Von da an durfte im Haus nicht mehr über den Krieg gesprochen werden. Heute spricht Ingeborg Kilders wieder über die Erlebnisse. Auch ihr Mann, der im Ort der Müllerssohn war, hat viel zu erzählen. Die Geschichte zweier Deutscher, die die Stunde Null hautnah miterlebten.

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