Gauck geht in die Offensive

Fürth/Berlin (dpa) - Der designierte Bundespräsident Joachim Gauck hat die Geschichtsvergessenheit der heutigen Jugend beklagt. Vor allem an Kenntnissen über die osteuropäische Geschichte mangele es bei vielen Jugendlichen, sagte der 72-Jährige in Fürth.

„Ich kann nicht glauben, dass manche die Stasi nicht kennen.“ Generell fehle es im heutigen Europa an einer Auseinandersetzung mit dem Osteuropa des Kalten Krieges. „In Europa wird gerade so getan, als ob es nur eine Erinnerung an eine westdeutsche Geschichte gibt, nicht aber auch eine osteuropäische.“

Die Lesung aus seinem neuen Buch war der erste öffentliche Auftritt Gaucks seit seiner Nominierung zum Kandidaten für das Amt des Staatsoberhauptes. Anfang nächster Woche will der frühere Chef der Stasi-Akten-Behörde, der selbst keiner Partei angehört, in Berlin mit den Spitzen von CDU, FDP, SPD und Grünen zusammen. Auch eine Begegnung mit der Linken war im Gespräch. An diesem Samstag will er an einer Tagung der CDU in Nordrhein-Westfalen teilnehmen.

In Berlin geht der 72-Jährige am Montagmorgen als erstes in die Bundesvorstandssitzung der CDU. Anschließend wird er im SPD-Vorstand erwartet. Am Dienstag will Gauck dann die Fraktionen von Union, SPD, FDP und Grünen besuchen. Auch die Linke möchte mit ihm ins Gespräch kommen. Sie war als einzige im Bundestag vertretene Partei von Merkel nicht in die Kandidatensuche einbezogen worden. „Wir werden Herrn Gauck selbstverständlich einladen“, sagte Parteichef Klaus Ernst der „Leipziger Volkszeitung“. „Dann werden auch die Punkte zur Sprache kommen, an denen wir unterschiedlicher Auffassung sind, zum Beispiel seine Pro-Banken-Haltung in der Finanzkrise.“

Gaucks Sprecher Andreas Schulze sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Dann finden wir für die Linke zeitnah einen Termin.“ In einer Spitzenrunde hatte die Linke am Donnerstag entschieden, einen eigenen Kandidatenvorschlag zu machen. Die Entscheidung fällt voraussichtlich am Montag. Im Gespräch sind die Nazi-Jägerin Beate Klarsfeld, der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge und die Bundestagsabgeordnete Luc Jochimsen. Die Linke stellt etwa 10 Prozent der Wahlleute in der Bundesversammlung.

Gauck wird nach Ansicht des Kieler FDP-Vorsitzenden Wolfgang Kubicki als Bundespräsident den Politikbetrieb in Deutschland verändern. „Es entsteht ein neues Kraftzentrum“, sagte er „Focus Online“. „Ich bin sicher, ein Bundespräsident Gauck wird Deutschland gut tun. Er wird der Demokratie gut tun, denn die öffentliche Dominanz von Angela Merkel wird abnehmen.“

Gauck selbst hat noch vor seiner Nominierung die Ansicht geäußert, der Bundespräsident sollte „keine Schau abziehen“. In einem jetzt veröffentlichten Interview des ARD-Kulturmagazins „ttt - titel, thesen, temperamente“ sagte er: „Bei der "Institution Bundespräsident", wo kaum Macht existiert, erwarten wir Glaubwürdigkeit. Wie erlangt man sie? Man sollte bei sich sein. Man sollte keine Show abziehen. Und man darf zeigen, dass man die Werte, auf denen unsere Gesellschaft, unser Land beruht, ernst nimmt.“

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