20 Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen: Löhrmann - „Ich bewundere Frau Genç“

NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann aus Solingen erinnert sich als Zeitzeugin an den Brandanschlag vor 20 Jahren.

Düsseldorf. Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) erinnert sich an den Brandanschlag in Solingen vor 20 Jahren. Damals war sie im Solinger Stadtrat. Am Gedenktag am Mittwoch nimmt die Ministerin an verschiedenen Veranstaltungen der Stadt Solingen teil.

Frau Löhrmann, diesen Mittwoch jährt sich der Brandanschlag in Solingen. Wie haben Sie das damals erlebt?

Sylvia Löhrmann: Mein Lebensgefährte und ich waren gerade auf dem Weg in unsere Partnerstadt Aue, als wir im Radio hörten, was passiert war. Wir sind sofort zurückgefahren. Uns war klar, jetzt ging es darum, der Familie zu helfen und die Situation in der Stadt im guten Sinne mit zu gestalten. Ich war damals Fraktionsvorsitzende der Grünen im Solinger Stadtrat, deshalb fühlte ich mich mitverantwortlich.

Sylvia Löhrmann (Grüne) über die Opfer-Familie Genç

Hatten Sie geahnt, dass in Solingen eine Tat mit solch einem Hintergrund möglich war?

Löhrmann: Nein, das hätte ich nicht gedacht. Solingen war kein rechtes Nest, sondern in dieser Hinsicht eine Stadt wie jede andere. Deshalb wurde ja auch der Satz geprägt „Solingen ist überall“. Er soll deutlich machen, dass in unserer Gesellschaft — übrigens auch heute immer noch — fremdenfeindliche Ressentiments existieren, denen wir als aufrechte Demokraten entschieden begegnen müssen. 1993 war die politische Stimmung sehr aufgeheizt. Solingen stand am Ende einer schrecklichen Reihe ausländerfeindlicher Anschläge: Hoyerswerda, Hünxe, Rostock-Lichtenhagen und Mölln. Und nur drei Tage vor dem Anschlag in Solingen wurde der sogenannte Asylkompromiss geschlossen. Meine Partei war dagegen.

Zu der Zeit der Anschläge haben Sie als Lehrerin gearbeitet. Wie haben Sie mit den Schülern über das Verbrechen gesprochen?

Löhrmann: Als ich nach den Pfingsttagen meine Klasse in der Gesamtschule wieder traf, waren die Schüler türkischer Herkunft traumatisiert. Sie sagten, das hätte auch uns passieren können. Die Zugewanderten hatten ihr Vertrauen in die deutsche Gesellschaft verloren. Und deshalb heißt seitdem der Auftrag an uns alle — über Solingen hinaus: Wir müssen tagtäglich gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit eintreten. Und dies gilt natürlich gerade auch für unsere Schulen. Das gemeinsame Gedenken an die Opfer von Solingen ist wichtig, denn damit schaffen wir auch eine neue Gegenwart, in der Respekt, Mut, Entschlossenheit und gegenseitige Anerkennung gelten.

Sie sind mit der Familie Genç gut bekannt. Was hat diese Familie durchgemacht?

Löhrmann: Ich glaube, niemand kann den unendlichen Schmerz nachempfinden, den diese Familie erlitten hat. Deshalb bewundere ich Frau Genç umso mehr dafür, dass sie direkt nach dem Anschlag, bei dem sie fünf ihrer engsten Familienmitglieder verloren hat, zur Verständigung und zur Freundschaft aufgerufen hat. Sie hat sehr, sehr viel dazu beigetragen, die damals aufgewühlte Lage in Solingen wieder zu beruhigen.

Welche Auswirkungen hatte der Anschlag auf die Stadt?

Löhrmann: Dieser Anschlag hat auch das Selbstverständnis der Stadt Solingen getroffen. Ich finde es gut, dass sich bis heute die Stadtspitze klar zur ihrer Verantwortung bekennt und sich der Großteil der Stadtgesellschaft für eine gemeinsame Zukunft und gegen jede Form der Ausgrenzung engagiert. Das sieht man nicht nur in diesem Jahr mit den vielen verschiedenen Aktionen, die die Vereine, Verbände, Schulen und Institutionen hier auf die Beine gestellt haben.

Ist das Thema Ausländerfeindlichkeit auch heute noch so aktuell wie vor 20 Jahren?

Löhrmann: Ja. Leider. Die furchtbare Mordserie des NSU hat uns noch einmal schmerzlich vor Augen geführt, dass es immer noch Fremdenfeindlichkeit in Deutschland gibt, auch in Solingen. Wir brauchen einen Staat, der das Klima des vielfältigen Miteinanders selbstverständlich und die Kultur der Anerkennung institutionell möglich macht. Das heißt ganz konkret, wir brauchen die doppelte Staatsangehörigkeit, und wir brauchen das kommunale Wahlrecht für Zugewanderte. Und wir brauchen aktive und mutige Bürger, die sich entschlossen für eine Demokratie engagieren, in der die Kultur der echten Anerkennung in persönlichen Beziehungen gelebt wird und in der Gewalt, Intoleranz und Rassismus keinen Platz haben.

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