Mein Mauerfall-Tagebuch - 12. November 1989: Freiheit, Freiheit

Zum ersten Mal glaube ich, dass mich der Mauerfall noch umbringt. Nicht, weil ich seit Tagen nicht geschlafen habe, sondern weil bei der Öffnung des neuen Übergangs am Potsdamer Platz so ein Gedränge herrscht, dass man fast niedergetrampelt wird.

Mein Mauerfall-Tagebuch - 12. November 1989: Freiheit, Freiheit
Foto: Andreas Schoelzel

Berlin. Zum ersten Mal glaube ich, dass mich der Mauerfall noch umbringt. Nicht, weil ich seit Tagen nicht geschlafen habe, sondern weil bei der Öffnung des neuen Übergangs am Potsdamer Platz so ein Gedränge herrscht, dass man fast niedergetrampelt wird. Hunderte von Reportern und Kameraleuten wollen ganz dicht dabei sein. Tausende von Bürgern werden hinter Absperrungen noch auf Distanz gehalten. Von Osten kommt der Ost-Berliner Oberbürgermeister Erhard Krack, von Westen Walter Momper. Es ist 8.00 Uhr und Sonntag. Beide begrüßen sich fast genau auf der Grenzlinie. Walter Momper sagt zu Krack: „Ich freue mich über diesen Tag. Der Potsdamer Platz ist das alte Herz Berlins und dieses Herz wird wieder schlagen“. Krack sagt: „Wir werden in guter Nachbarschaft und Freundschaft leben“. Auf beiden Seiten öffnen sie jetzt die Absperrungen, wir sehen die Massen auf uns zu rennen. Momper hat jetzt nur noch wenig Zeit, um seine kleine Überraschung unterzubringen, die wir uns überlegt haben. Er hat in einem nahen Hotel auf der Westseite einen Frühstückstisch decken lassen und lädt Krack nun dazu ein. Krack aber sagt, er habe noch andere Verabredungen und wendet sich abrupt wieder ab in Richtung Ost-Berlin. Vielleicht traut er sich einfach noch nicht über die Grenze.

Mein Mauerfall-Tagebuch - 12. November 1989: Freiheit, Freiheit
Foto: Andreas Schoelzel

Mittags bin ich im Rathaus Schöneberg, wo Senatsmitglieder symbolisch bei der Auszahlung des Begrüßungsgeldes helfen. Hunderte DDR-Bürger warten geduldig in der Schlange. Jeder von ihnen bekommt einen Stempel auf das Lichtbild in seinem Personalausweis, um Missbräuche auszuschließen. So wird es seit Tagen in allen Zahlstellen der Stadt gemacht. In den Wochen nach dem Mauerfall erhalten wir viele Briefe. Es sind DDR-Bürger, die sich entschuldigen, dass sie das Geld aus Versehen mehrfach kassiert haben. Manche legen 100 Mark bei. Diese Ehrlichkeit ist unglaublich.

Zwei Millionen Menschen sind seit dem Donnerstagabend bis zu diesem Sonntag nach Berlin gekommen. Drei Tage Ausnahmezustand. Alle Geschäfte sind offen, die Kneipen voll. Die DDR-Bürger gucken viel, aber kaufen wenig, auch weil die 100 D-Mark nicht weit reichen. Manche Geschäftemacher drehen ihnen Ramsch an, ein Obsthändler schmeißt an einem Grenzübergang Bananen unter das Volk. Die Sex-Shops locken mit Sonderangeboten. Ein West-Berliner Grundstücksmakler kauft an diesem Wochenende bereits eine große Brachfläche im Grenzgebiet, in der Erwartung, dass sie bald sehr viel mehr wert sein wird. Der Kapitalismus ist schnell. In der Deutschlandhalle gibt es am Nachmittag ein Rockkonzert, das der SFB organisiert. Joe Cocker singt „With a little help from my friends“ und Udo Lindenberg seinen „Sonderzug nach Pankow“. Über 10 000 Jugendliche aus Ost und West sind in der Halle, als Walter Momper und ich hinter der Bühne eintreffen. Momper hat einen umjubelten Auftritt. Dann singt Marius Müller-Westernhagen „Freiheit, Freiheit ist das Einzige, was zählt“. Tausende Feuerzeuge werden angezündet, tausende singen mit. Mir schaudert. Es ist wirklich das Einzige, was zählt.

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