Moddrig und glücklich: DDR-Flucht durch den Abwasserkanal

Nach dem Mauerbau flüchteten Hunderte durch das Berliner Kanalsystem - die DDR versuchte das unter anderem mit Sperrgittern zu verhindern.

Das Kanapsperrgitter an der Ecke Invalidenstraße/Scharnhorststraße ist das letzte seiner Art und sollte vor der Wende unterirdische Fluchten vom Osten in den Westen von Berlin verhindern.

Das Kanapsperrgitter an der Ecke Invalidenstraße/Scharnhorststraße ist das letzte seiner Art und sollte vor der Wende unterirdische Fluchten vom Osten in den Westen von Berlin verhindern.

Foto: Lukas Schulze

Am 7. September 1961 zieht Ulrich Pfeifer seinen besten Anzug an. Mit vier jungen Frauen und einem Mann, die er allesamt nicht kennt, ist er abends in der Gleimstraße in Prenzlauer Berg verabredet. „Wir haben uns in den Hauseingängen rumgedrückt und irgendwann war die Luft rein“, erinnert sich der heute 78-Jährige.

Die Männer heben den Gullydeckel weg, die Gruppe verschwindet im stinkenden Kanalschacht, in völliger Dunkelheit - während ein weiterer Helfer den Gully von oben schließt. „Das Wasser war wadenhoch, wir konnten nicht aufrecht stehen. Wir wussten, wir müssen nur immer geradeaus laufen. Aber da war auf einmal dieses Gitter - von dem wussten wir nichts.“

Ein Moment größter Anspannung und unterschwelliger Angst. Doch das Gitter in dem eiförmigen Kanal reicht nicht ganz bis zum Boden hinab. Einer nach dem anderen taucht also durch den Abwassersud unter dem Gitter hindurch - und erreicht wenige hundert Meter weiter den Ausstieg. Dort haben Fluchthelfer, Studenten der West-Berliner Hochschule der Künste, den Gullydeckel geöffnet. „Das Ganze dauerte nicht mehr als eine halbe Stunde. Mein Anzug war hinüber. Aber das war sowas von egal“, erinnert sich Pfeifer.

Das Kanalsperrgitter in der Gleimstraße war eines von insgesamt rund 70, die entlang der Grenze im geteilten Berlin eine unterirdische Flucht durchs Kanalsystem verhindern sollten. „Es war unglaublich, wie aufwendig diese Gitter schließlich gebaut wurden“, berichtet Johannes Horscht. Nach der Wende war er als Wasserwerks-Betriebsstellenleiter mit dem Abbau der Sperrgitter befasst. „In der Voßstraße waren gleich mehrere Gitter hintereinander angebracht.“

Hintergrund: Während die Trinkwasserversorgung Berlins bereits in den 50er Jahren getrennt war, floss Abwasser weiter grenzüberschreitend. Ab den 60er Jahren sollte es jedoch nach und nach ebenfalls separiert werden - auch um teure Ausgleichszahlungen für die Wasseraufbereitung zu verhindern.

Weil sich die Fluchtmöglichkeit durch die Kanäle herumsprach und vorhandene Gitter durchgesägt wurden, rüstete die DDR nach: Die Barrieren wurden bis zum Boden verlängert, die Gitterstäbe beweglich rollend - und damit nicht sägbar - montiert, oder gleich durch massive S- und Eisenbahnschienen ersetzt. „Außerdem gab es sogenannte aktive Gitter. Trat man darauf, dann lösten sie stillen Alarm bei den Grenztruppen aus“, sagt die Historikerin Jelena Butter.

Nur eine dieser unterirdischen Absperrungen ist heute noch erhalten - an der Ecke Invalidenstraße/Scharnhorststraße. Schon ein kurzer Abstieg zu diesem unterirdischen Mahnmal reicht aus, um einen Eindruck von der atemberaubenden Tunnelenge zu bekommen, der die Flüchtenden ausgesetzt waren.

Für Pfeifer ging die Flucht damals glücklich aus. Für seine Freundin, die ihm eine Woche später auf dem selben Weg folgen wollte, nicht. Sie wurde zusammen mit anderen Fluchtwilligen von Grenzschützern gefasst und zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Für Pfeifer, im Westteil der Stadt geboren, dürfte auch dies Ansporn für eigene Fluchthilfe-Aktionen gewesen sein: Er war beim Bau des spektakulären Tunnels 29 in der Bernauer Straße dabei, durch den im Frühsommer 1962 dann 29 DDR-Bürger entkamen.

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