Deutsch leicht gemacht: Netzwerk übersetzt Behördendeutsch

Bremen (dpa) - Behördendeutsch ist oft kompliziert - besonders, wenn man nicht gut lesen kann. Das Bremer Büro für Leichte Sprache macht offizielle Dokumente verständlicher. Das hilft auch Analphabeten.

Deutsch leicht gemacht: Netzwerk übersetzt Behördendeutsch
Foto: dpa

Wenn Nicole Papendorf mit der Straßenbahn in Bremen fährt, wird es schwierig. Ihr Rollstuhl ist dabei gar nicht mal das Problem. Es sind die Anzeigetafeln. „Die Leuchtschrift läuft zu schnell. Viele Wörter sind schwierig“, sagt die 38-Jährige. Was andere Menschen auf einen Blick erfassen, muss sie mühsam entziffern. In der Schule hat Papendorf nie richtig lesen gelernt. Der Alltag ist für sie eine Herausforderung. Ob Bahnfahren, Briefe von der Bank oder die Speisekarte im Restaurant - bei allem braucht sie Hilfe.

So wie Papendorf geht es vielen Menschen. Weltweit können etwa 781 Millionen Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben. Daran erinnert jährlich der Weltalphabetisierungstag am 8. September. In Deutschland leben 7,5 Millionen Analphabeten. Manche von ihnen können gar nicht lesen oder schreiben. Der Großteil kann jedoch einzelne Wörter oder kurze Sätze entschlüsseln. Für längere Texte reicht es aber nicht.

Ihnen will das Bremer Büro für Leichte Sprache helfen. Fünf Übersetzer formulieren dort Gesetzestexte, Behördenbroschüren und andere Dokumente um. Kein Satz darf mehr als sechs Wörter haben. Komplizierte Grammatik, Fachbegriffe und Abkürzungen sind tabu. Ihre kritischste Leserin: Nicole Papendorf.

Als fest angestellte Testleser prüfen Papendorf und ihr Kollege Oliver Pagel, ob die Übersetzungen auch für Menschen mit Lese-Handicap verständlich sind. Beide haben eine geistige Behinderung. Sie gehören neben Einwanderern, Demenzkranken und Analphabeten zur Zielgruppe des Büros für Leichte Sprache. Die Lebenshilfe hat die Einrichtung 2004 als bundesweit erste dieser Art gegründet. Beim Netzwerk Leichte Sprache sind inzwischen mehr als 25 ähnliche Initiativen aus Deutschland und Österreich registriert.

„Wir wollen den Menschen mehr Eigenständigkeit geben“, sagt Anne Wrede, Übersetzerin für Leichte Sprache in Bremen. Und damit auch ein Stück Würde zurück. Viele Betroffene schämen sich für ihr Manko und versuchen, es zu verbergen. „Wer sagt, dass er nicht ordentlich lesen und schreiben kann, gilt sofort als dumm“, erläutert Jan-Peter Kalisch vom Bundesverband Alphabetisierung. Deshalb bewegen sich viele Analphabeten zum Beispiel nur in bekannter Umgebung, um sich nicht an Straßenschildern orientieren zu müssen. Und im Restaurant tun sie so, als hätten sie ihre Lesebrille vergessen.

Die Hemmschwelle, einen speziellen Schreib- und Lesekurs zu besuchen, ist hoch. Deshalb melden sich viele erst spät dafür an. „Die meisten sind über 40“, sagt Kalisch. Doch mit zunehmenden Alter wird es auch schwieriger, lesen und schreiben zu lernen. „Es dauert sehr lange, und man macht langsamere Fortschritte“, weiß Kalisch. Texte in Leichter Sprache können da erste Erfolgserlebnisse bringen.

Genau das ist das Ziel der „ABC-Zeitung“, die mehrmals im Jahr als Online-Ausgabe erscheint. „Das ist eine Lektüre, die motiviert“, sagt Achim Scholz von der Volkshochschule in Oldenburg. Die Zeitung in Leichter Sprache erscheint seit 2008. Die Artikel schreiben Teilnehmer von Alphabetisierungskursen an der Volkshochschule und zunehmend auch andere Betroffene aus dem deutschsprachigen Raum. Leichten Lesestoff bieten aber auch immer mehr Internetseiten, Sachbücher und Romane. Selbst an einer Übersetzung von Teilen der Bibel arbeitet die Bremer Lebenshilfe.

Nicole Papendorf ist froh, dass es die Leichte Sprache gibt. Nicht nur wegen ihres Jobs. Sie hat dadurch die Angst vor Texten verloren. „Als ich von der Schule abgegangen bin, habe ich gesagt: So, ich lese nichts mehr, keine Bücher, keine Briefe, keine Rezepte.“ Inzwischen traut sie sich, die Briefe von ihrer Bank oder der Krankenkasse selbst zu öffnen - auch wenn sie diese ohne Hilfe nicht verstehen kann. Einen Brief in Leichter Sprache hat sie bisher allerdings nicht erhalten. „Das wäre total schön“, meint Papendorf. „Das wäre dann mein erster Brief, den ich alleine gelesen habe.“

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