ADHS: Der Zappelphilipp ist erwachsen geworden

Jahrelang hieß es, die Störung verschwindet in der Pubertät. Doch sie bleibt ein Leben lang. So wie bei Rainer W.

Dass er unter ADHS leidet, hat Rainer W. durch seine Kinder erfahren. Als bei den heute sechsjährigen Zwilllingen die Verhaltensstörung diagnostiziert wurde, wusste der 33-Jährige: "Das haben sie von mir." ADHS bedeutet Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom. Bei Kindern wird es auch gern das Zappelphilipp-Syndrom genannt.

Wer unter ADHS leidet, kann nicht still sitzen, ist hektisch und unkonzentriert. Diese innere Unruhe, das Gefühl, immer etwas tun zu müssen - das kennt Rainer W. sein Leben lang. Schon sein Vater und auch der Großvater waren so. "Man hat uns schnell als cholerisch abgetan, als aufbrausend und impulsiv", erinnert er sich.

Bis vor wenigen Jahren gingen die Ärzte davon aus, dass ADHS mit der Pubertät verschwindet. Erst seit 2003 gibt es auch Therapieangebote für Erwachsene. Professor Detlev Nutzinger leitet die Medizinisch-Psychosomatische Klinik in Bad Bramstedt, eine der wenigen Kliniken in Deutschland, die eine Therapie bei ADHS im Erwachsenenalter anbieten. Er schätzt, dass vier Prozent aller erwachsenen Deutschen unter der Störung leiden. Die meisten seiner Patienten erfahren wie Rainer W. erst durch ihre Kinder davon.

Aus der äußerlichen Unruhe, die ADHS-Kinder charakterisiert, wird im Erwachsenenalter eine innere Anspannung. "Betroffenen fällt es besonders schwer zu entspannen", erklärt Nutzinger. Viele seiner Patienten haben mit sozialen Ängsten bis hin zu Depressionen zu kämpfen, "weil sie immer wieder Niederlagen erleben."

Wer unter ADHS leidet, hat oft extreme Stimmungsschwankungen und kann sich nur schwer in seine Umgebung einfügen. Vor allem im Berufsleben. Dort kommt es laut Chefarzt Nutzinger häufig zu Konflikten, weil die Betroffenen anecken, sich überfordern, oder nicht an Zeitpläne halten können.

Rainer W. war viele Jahre lang auf der Suche nach einem geeigneten Beruf. "Ich habe alles ausprobiert. Erst war ich Maurer, dann Vertreter, Fernfahrer und zuletzt habe ich eine Ausbildung zum Fachinformatiker gemacht. Ich muss mit meinem Kopf arbeiten", sagt er. Genau der stellt Rainer W. aber auch immer wieder auf die Probe. "Mir gehen ständig so viele Gedanken durch den Kopf. Ich fange gerne mehrere Aufgaben an und führe keine zu Ende. Wenn ich mich konzentrieren möchte, brauche ich absolute Ruhe." Mittlerweile arbeitet Rainer W. als selbstständiger Webdesigner. Er steht permanent unter Termindruck, aber fühlt sich endlich gefordert.

Und wie ist es im Privatleben? Einen ruhigen Fernsehabend gibt es für Rainer W. nur, "wenn der Film richtig spannend ist." Sobald der Werbeblock kommt, steht er auf und geht an den Computer. "Einfach, um etwas zu tun zu haben." Damit muss auch seine Frau leben. "Betroffene erleben besonders häufig Trennungen und Scheidungen", sagt Professor Nutzinger. Ganz wichtig sei es daher, dass Angehörige darüber aufgeklärt sind, was ADHS ist und welches Verhalten die Störung auslöst.

Krankheit Ärzte unterscheiden zwischen ADHS und ADS - bei letzterem leiden Betroffene nicht unter Hyperaktivität. Die Wahrscheinlichkeit, dass AD(H)S vererbt wird, liegt bei eineiigen Zwillingen bei 70 Prozent.

Ursache Forscher nehmen an, dass eine Störung des Dopamin- und Noradrenalin-Stoffwechsels die Ursache ist. Beides sind Botenstoffe, die den Informationsaustausch zwischen den neuronalen Netzwerken steuern.

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