Gedächtnisverlust meistern - an Erinnerung herantasten

Köln/Halle (dpa/tmn) - Amnesie betrifft eine Urangst des Menschen: den plötzlichen Verlust des Gedächtnisses. Betroffene haben keine Vergangenheit mehr. Die eigene Identität verlieren sie aber nur selten.

Die Krankheit ist komplex und tritt in vielfältigen Formen auf.

Als Barbara Hohlweg nach sechs Wochen Koma die Bilder zweier völlig zertrümmerter Autos sieht, kann sie nichts damit anfangen. „Das war für mich wie die Geschichte von jemand anderem, das drang gar nicht zu mir durch.“ Dabei hat sie bei diesem Unfall großes Glück gehabt. Ihr Leben war ihr geblieben, doch die Erinnerung daran war verloren - der Grund: Amnesie.

„Man spricht von einer Amnesie, wenn eine isolierte Störung des Gedächtnisses besteht“, sagt Prof. Gereon Fink, Neurologe an der Universität zu Köln. Viele Amnesien gehen auf eine Schädigung bestimmter Gehirnareale zurück - ausgelöst etwa durch Schlaganfälle, Herzinfarkte, Schädel-Hirn-Traumata, Hirnhautentzündungen oder Alkoholismus. Seltener rufen auch psychische Faktoren wie starker Stress oder traumatische Erlebnisse Amnesien hervor.

Grundsätzlich unterscheiden Mediziner zwischen anterograden und retrograden Amnesien. „Bei anterograden Amnesien ist der Erwerb von neuen Gedächtnisinhalten gestört, während bei retrograden Amnesien der Abruf bereits gespeicherter Informationen beeinträchtigt ist“, sagt Prof. Bernd Leplow vom Institut für Psychologie der Universität Halle-Wittenberg.

Am häufigsten kommen anterograde Amnesien vor. „Betroffene mit anterograder Amnesie wissen zwar, wer sie sind und können sich an Details aus ihrer Vergangenheit erinnern, aber sie verharren im Hier und Jetzt und sind unfähig, Neues bleibend und bewusst abzuspeichern“, erläutert Prof. Hans-Joachim Markowitsch, Hirnforscher an der Universität Bielefeld. Bei einer retrograden Amnesie hingegen wissen die Betroffenen oftmals nicht, wer sie sind.

Bei beiden Amnesieformen ist in der Regel das deklarative Gedächtnis betroffen, das den bewussten Zugriff auf Informationen ermöglicht. „Handlungsroutinen wie Schwimmen und Radfahren bleiben meistens erhalten“, sagt Leplow. Typischerweise vergessen Betroffene häufiger autobiografische Gedächtnisinhalte als das Wissen über allgemeine Fakten. „Das autobiografische Erinnern erfordert hingegen eine feine gleichzeitige Kopplung von Emotion und Kognition, und ist dadurch am anfälligsten gegenüber Hirnschäden“, erklärt Markowitsch.

Vor allem retrograde Amnesiepatienten zeigen oft keine Gefühle: „Wir sagen, dass sie emotional nicht 'mitschwingen', sowohl bezüglich ihrer eigenen Vergangenheit als auch generell im Alltag“, sagt Markowitsch. Die Emotionen und Erinnerungen sind aber vermutlich nicht verloren. „Wahrscheinlich ist lediglich der Zugang zu den gespeicherten Erlebnissen blockiert.“

Die Dauer und Therapiemöglichkeiten einer Amnesie hängen davon ab, wie umfassend der Hirnschaden ist. Bei retrograden Amnesien sollte man zunächst die Persönlichkeit der Betroffenen stabilisieren und Vertrauen zurückgewinnen. Häufig geschieht das durch Verhaltenstherapien. Über abgespeicherte allgemeine Fakten sollen die Patienten Zugang zu kritischen Lebensereignissen bekommen. „Zum Beispiel kann der Betroffene beim Blättern im Fotoalbum die Bilder zunächst neutral beschreiben und sich dadurch langsam an seine Gefühle herantasten“, erklärt Markowitsch.

Angehörige und Freunde dürfen Hohlweg zufolge nicht ungeduldig werden, sondern müssen eine verständnisvolle Atmosphäre schaffen, in der sie bestimmte Dinge mit dem Betroffenen immer wieder durchgehen. Auch der gemeinsame Austausch in einer Selbsthilfegruppe könne viel bewirken.

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