Zwischen Filmset und Gorodki: Das bunte Leben im Plattenbau

Schwerin (dpa) - Bewohner von Plattenbauten wehren sich gegen das Image als Brennpunkt-Viertel. So gibt es auf dem Schweriner Dreesch eine Vielfalt von Vereinen, die ihresgleichen sucht.

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Schauspieler Charly Hübner stand jüngst im größten Plattenbaugebiet Schwerins für einen Film vor der Kamera, der auf den ersten Blick alle Klischees zu bedienen scheint. Er spielt in „Anderst Schön“, so der Arbeitstitel des Streifens, den Hausmeister eines Plattenbaus kurz vor dem Abriss. „Übrig gebliebene DDR-Anhänger, gescheiterte Genies, künstlerische Neonazis, schlitzohrige Döner-Verkäufer und eine dem Alkohol nicht abgeneigte Mutter bevölkern sein skurriles kleines Universum“, schreibt die Produktionsfirma filmpool fiction.

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Ja, es gibt sie auch im Schweriner Plattenbaugebiet Dreesch, und das in nicht geringer Zahl: die Trinker, die Langzeitarbeitslosen, die Hartz-IV-Empfänger und die Kinder, die auf den Mittagstisch der Tafel angewiesen sind. Aber auch das ist Dreesch: „Unheimlich viel Engagement, tolle Vereine, ein großartiges Miteinander“, sagt Hanne Luhdo. Den Begriff „Brennpunkt-Stadtteil“ kann die Vorsitzende des Vereins „Die Platte lebt“ nicht mehr hören. „Es lebt sich hier genauso friedlich wie anderswo in der Landeshauptstadt.“

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Der vor zehn Jahren gegründete Verein organisiert Kinderfeste und Trödelmärkte, unterhält den Stadtteiltreff „Eiskristall“ mit einem täglich geöffneten Café, koordiniert Aktivitäten mit anderen Vereinen wie dem jüdischen Sportverein Makkabi oder dem Kulturverein „Kuljugin“ mit seinen Musik- und Kunstgruppen. Auch der Runde Tisch Soziales ist eine Initiative von „Die Platte lebt“. Dort werden unterschiedlichste Probleme besprochen und dafür Lösungen gesucht, von Englisch in Kitas bis zu pubertierenden Schulabbrechern in der Einkaufspassage.

Schätzungsweise jeder Fünfte der 23 000 Dreesch-Bewohner hat einen Migrationshintergrund. Das ist ein Segen, sagt Luhdo. „Die Migranten sind die Kulturträger hier, das kann man so sagen.“ Meist stammen sie aus Russland, der Ukraine und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, sie sind oft ehrgeizig und engagiert.

Einer von ihnen ist Igor Peters, der 2003 aus Sibirien nach Schwerin kam. Der 48-jährige Vater von drei Kindern ist stellvertretender Vorsitzender des „Vereins für nichttraditionelle Sportarten“ auf dem Dreesch. Für das aus Osteuropa stammende Gorodki haben die Vereinsmitglieder eine Spielstätte für Training und internationale Turniere aufgebaut. Ziel des Sportspiels ist es, aus Holzklötzchen zusammengesetzte Figuren mit einem Wurfstab aus einer abgegrenzten Spielfläche heraus zu schlagen. „Für mich ist das hier kein Problemstadtteil“, sagt Peters. „Der Stadtteil hat gute Chancen: Es fließt viel Geld in die Sanierung der Häuser und Straßen, die Leute machen viel zusammen.“ Gerade entsteht ein Freizeit- und Familienpark neben der Gorodki-Anlage.

Es gibt aber auch die zugigen Orte, wo Plattenbauten abgerissen wurden, leerstehende Kaufhallen vor sich hin rotten und Trampelpfade über zugewucherte Wiesen führen. An so einem Platz hat „Die Platte lebt“ im Sommer mit dem „Platten-Stern“ ein Zeichen gesetzt: sternförmig angeordnete, längliche Drahtgitter-Behälter, gefüllt mit Trümmern abgerissener Plattenbauten, die bunt besprüht wurden. Obenauf pflanzten die Aktivisten Gräser und Lavendel. An den Gittern hängen Liebesschlösser, in den Bäumen baumeln bunte Gebilde, von Anwohnern gestrickt. Bänke laden zum Sitzen ein. Luhdo träumt von einem „Platten-Park“ auf der Brache, mit Labyrinth, Ökopyramide und Kletterwand. „Aber dafür gibt's erstmal kein Geld“, sagt sie. Auch sei unklar, ob der Verein das Areal überhaupt in Gänze bekommt. „Möglicherweise wird hier auch nach Erdwärme gebohrt.“

Mit den Finanzen sieht es mau aus. Die Arbeitsstellen des Vereins aus Projekten wie Bürger- und Quartiersarbeit sind ausgelaufen, Nachfolgeprogramme gebe es nicht, sagt Luhdo. Der „Eiskristall“ musste seine Öffnungszeiten halbieren, alles läuft ehrenamtlich. Jetzt wird „Die Platte lebt“ mit dem Regine-Hildebrandt-Preis der SPD in Berlin ausgezeichnet. Mit den 10 000 Euro Preisgeld kann der Verein den Unterhalt für den Stadtteiltreff für ein Jahr bezahlen.

Wie es danach weitergeht? „Das werden wir sehen, irgendwie geht es weiter“, sagt Luhdo optimistisch. Zum Glück gebe es einige Spender, wie eine Dame aus Baden-Baden, die jeden Monat 50 Euro schicke. Der Schweriner Verein teilt sich den Regine-Hildebrandt-Preis mit der „Frauenbrücke Ost-West“ im nordrhein-westfälischen Emsdetten.

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