Grippemittel stehen in der Kritik

Nach einer Studie soll die Wirkkraft gering sein. Staaten hatten große Mengen gegen Pandemien gekauft.

Grippemittel stehen in der Kritik
Foto: dpa

London. Kaum besser als ein Placebo soll das Grippemittel Tamiflu sein. Das berichtet zumindest die Fachzeitschrift „British Medical Journal“. Die beruft sich auf eine Analyse der Cochrane Collaboration. Zu dieser Zusammenarbeit haben sich mehrere pharma-unabhängige Ärzte und Wissenschaftler aus aller Welt zusammengeschlossen. In der Analyse sind erstmals 20 Studien zu Tamiflu ausgewertet worden und 26 zum britischen Grippemittel Relenza, dem ebenfalls ein schlechtes Zeugnis ausgestellt wird. 24 000 Probanden waren beteiligt. Das Pikante: Tamiflu hatten viele Länder für den Fall einer Pandemie — vor allem der Vogel- oder Schweinegrippe — gebunkert. Allein Großbritannien soll laut BBC für Tamiflu-Packungen rund 470 Millionen Pfund (rund 570 Millionen Euro) ausgegeben haben.

In der Studie heißt es, dass das Medikament, hergestellt von der Schweizer Firma Roche, die Symptome der Krankheit gerade mal um einen halben Tag verkürze — nämlich von sieben auf 6,3 Tage. Bei Kindern soll es gar keinen Effekt haben. Es gebe außerdem keine Belege, dass Tamiflu das Risiko von Komplikationen infolge der Infektion verringere. Es soll noch dazu viele Nebenwirkungen haben, zum Beispiel Übelkeit und Erbrechen. Auch soll das Risiko von Kopfschmerzen, Nierenproblemen und sogar psychischen Störungen bei präventiver Einnahme des Medikaments steigen.

Der Streit um die Wirksamkeit von Tamiflu schwelt seit langem. Dass die Cochrane Collaboration die Daten der Studien jetzt überhaupt auswerten konnte, ist wohl der Hartnäckigkeit der Wissenschaftler zu verdanken, die seit mehreren Jahren den Pharmakonzern Roche um Herausgabe der vollständigen Daten gebeten hatten. Vergangenes Jahr war dieser der Bitte nachgekommen.

Die Analyse der unabhängigen Wissenschaftler ist deshalb brisant, weil zahlreiche Regierungen viel Geld für das Grippemittel ausgegeben haben. Auch in Deutschland sollen Tamiflu-Vorräte in dreistelliger Millionenhöhe lagern. Dort hatte man bereits 2007 und 2008 mit der Einlagerung der Medikamente begonnen, nachdem sich die Vogelgrippe ab 2006 aus Asien ausgebreitet hatte.

Erst vor einem Monat war eine vom Tamiflu-Hersteller finanzierte Studie im Fachblatt „The Lancet Respiratory Medicine“ zu einem anderen Ergebnis gelangt als das Cochrane-Team. Demnach senkten Neuraminidasehemmer wie Tamiflu bei Patienten, die während der H1N1-Epidemie 2009 bis 2010 in Krankenhäuser kamen, das Sterberisiko um 25 Prozent. Die Gefahr sank den Angaben zufolge insbesondere dann, wenn sie solche Medikamente früh einnahmen.

Dass die zwei Analysen zu so unterschiedlichen Ergebnissen kommen, überrascht Professor Bernd Mühlbauer nicht. Was in „The Lancet Respiratory Medicine“ veröffentlicht wurde, sei keine klassische zusammenfassende Analyse mehrerer randomisierter, kontrollierter Studien, erklärt Mühlbauer, der im Vorstand der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft sitzt. Störgrößen wie zum Beispiel Alter oder Vorerkrankungen seien nicht mit einbezogen worden. Daher sei die Analyse quasi aussagefrei.

Mühlbauer sieht die Einnahme von Tamiflu deshalb sehr kritisch: Er rät Patienten davon ab, das Medikament zu nehmen. Das neueste Update der Cochrane Collaboration habe sogar noch eine Schippe draufgelegt: Je mehr Daten für die Metaanalysen vom Hersteller zur Verfügung gestellt worden seien, desto mehr habe der therapeutische Nutzen des Mittels abgenommen. Nun seien in der aktuellen Auswertung in Form von Nebenwirkungen sogar noch Risiken hinzugekommen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort