Indien: Laufen, um zu leben

Kolkata ist weltweit der letzte Ort, an dem Rikschas noch von Hand gezogen werden. Doch das auf Modernisierung drängende Land will das traditionelle Verkehrsmittel verbieten.

Düsseldorf. Seine mit Hornhaut überzogenen Fußsohlen sind schwarz vom Dreck der Stadt. Die Luft ist satt von Abgasen, die die Jawaharlal Nehru Road blind machen. Doch Sumit Bharati Sinne sind klar. Sein Ein-Mann-Theater kann beginnen. Ein Schauspiel, das er in 28 Berufsjahren perfektioniert hat und das vom Überqueren einer viel befahrenen Hauptstraße Kolkatas (Kalkutta) mit einer von Hand gezogenen Rikscha handelt.

Die Logenplätze auf seiner Rikscha haben eine Mutter und ihre beiden Kinder eingenommen. Der 48-Jährige konzentriert sich, beobachtet den Verkehr. Kotflügel an Kotflügel, Stoßstange an Stoßstange quillt die Karawane aus Blech und Stahl vorbei. Schon hat der hagere Mann die nächste Lücke gesichtet. Der Start erfordert die meiste Kraft. An Armen und Beinen treten die Adern hervor, als er an den langen Holmen zieht. Straff spannt sich die Haut über seinen sehnigen Körper. Zehn bis zwölf kurze Schritte und er hat das zweirädrige Gefährt in Schwung gebracht. Er weicht einem Motorroller aus, umkurvt ein Schlagloch von der Größe eines Fahrradreifens. Einen kurzen Moment verlangsamt er seinen Trab, lässt einen Bus vorbeirauschen, macht einen weiteren Schlenker und hat die Mitte der Straße erreicht.

"Die Stärkeren", wie Sumit Bharati die Lastwagen, Autos und Motorräder nennt, hat er nun links und rechts neben sich. Riesige Reifen bedrängen ihn. Auf Augenhöhe mit manchem Auspuff rennt er durch das Dröhnen von Motoren und das Hupen der Ungeduldigen, die ihn waghalsig überholen. An einem seiner Finger hat er ein einzelnes Glöckchen befestigt, mit dem er ununterbrochen läutet - das sicher freundlichste Geräusch, mit dem ein Fahrzeug in Kolkata, dem einstigen Kalkutta, sein Kommen ankündigt. Zweimal noch muss er einer Kollision mit einem der Stärkeren ausweichen, dann ein finaler Schlenker und er hat eine der Quergassen erreicht. Ende des Schauspiels, der Vorhang fällt ohne Applaus.

Sumit Bharati rennt, damit andere sitzen können. Auch Ranjit Kundu, Transportminister des Bundesstaats West Bengalen, ist schon mit einer von Hand gezogenen Rikscha gefahren, nun aber will er diese verbieten lassen. Er spricht von einer "veralteten und unmenschlichen Transportmethode". Es gebe schließlich Busse, Straßenbahnen, U-Bahnen und Taxis. Die Rikschas dagegen seien ein Relikt aus alter Zeit, so der Politiker, sie hätten ein schlechtes Image und seien obendrein ein Verkehrshindernis.So schnell wie möglich wolle man das traditionelle Nahverkehrsmittel daher vollständig aus dem Straßenbild entfernt haben, sagt Ranjit Kundu. Es sind Menschen aus den engen Seitengassen, die regelmäßig mit Sumit Bharati fahren. Wo die Wege selbst für den verwegensten Taxifahrer unzugänglich sind, gibt es immer noch die Rikschas. Eine ältere Frau fährt zum Markt und lässt den Rikschawallah warten, um sich mit ihren Einkäufen wieder nach Hause bringen zu lassen. Besitzer von Cafés und Restaurants schicken die Menschenkutschen, um Vorräte abholen zu lassen. Die treuesten Kunden aber sind Schulkinder. Mittelschichtfamilien schließen mit dem Kuli einen Vertrag, dass er das Kind zur Schule fährt und wieder abholt. So wird er zu einem Angestellten der Familie.

Auch viele Ärzte setzen sich für den Erhalt des hölzernen Gefährts ein, da Krankentransporte in den überlaufenen Straßen sonst kaum möglich wären. Seit Mitte der 90er Jahre bereits droht die Regierung regelmäßig, von Hand gezogene Rikschas aus dem Verkehr zu ziehen. Zehntausende wurden seither beschlagnahmt und verschrottet. Manchem Kuli bot man für sein Gefährt 12 000 Rupien, etwa 280 Euro. Doch kaum einer verkaufte seine Existenzgrundlage.

Immer wieder wirft man den Rikschaläufern daher Knüppel in Form von neuen Gesetzen zwischen die Beine. Seit fünf Jahren ist das Befahren der Hauptstraßen verboten. Neue Lizenzen werden nicht mehr ausgestellt oder nicht verlängert. In den vergangenen zwei Jahren ist die Zahl der Zulassungen von 6000 auf 1800 gesunken. Dennoch sollen es geschätzte 20 000 Stück sein, die illegal durch die Straßen der 15-Millionen-Metropole rollen. Die Gewerkschaft spricht sogar von 35 000 Mitgliedern, die jährlich einen Beitrag von elf Rupien zahlen, um ihre Rechte vertreten zu sehen.

Auch Sumit Bharati ist Mitglied dieser Vereinigung. Zweimal musste er bereits eine Nacht im Gefängnis verbringen und Geldstrafe zahlen. Das müsse er in Kauf nehmen, sagt er, "meine Alternative heißt betteln". Doch macht es ihm Angst, dass die Polizei immer härter durchgreift. "Die Kontrollen und Schikanen sind häufiger geworden", versichert er. Aber er will nicht aufhören, sich einzumischen. Sicher 20 Mal, schätzt er, hat er gemeinsam mit seinen Kollegen für den Erhalt seiner Branche demonstriert. "Die Rikscha ist älter als die indische Republik", sagt Bharati stolz, "es wird nicht gelingen, uns zu verjagen."

Dann wird es plötzlich dunkel. Chowringhee, das Viertel im Herzen Kolkatas, wo überwiegend ausländische Rucksacktouristen in günstigen Unterkünften absteigen, wo die Menschen sich und ihren Alltag vollkommen auf die Bedürfnisse der wohlhabenden Besucher ausgerichtet haben, lebt mit den täglichen Stromausfällen.

"Die Silhouette eines Rikschawallah huscht schnaufend vorbei. Blind findet er auch in der Nacht seinen Weg. Hier und da sind in den flackernden Lichtpfützen der Öllampen Gesichter schemenhaft zu erkennen. Ein Mann balanciert scheinbar mühelos ein sofagroßes Bündel zusammengeschnürtes Papier auf dem Kopf und hastet weiter. Und Sumit Bharati erzählt noch ein bisschen von sich und der Geschichte der Rikscha, die ursprünglich im späten 19. Jahrhundert von chinesischen Geschäftsleuten zum Transportieren von Waren eingesetzt wurde.

"Viele, die mit mir fahren, können sich ein Taxi gar nicht leisten", sagt Bharati, "auf diese Weise unterstützen wir Armen uns gegenseitig." Eine Fahrt kostet durchschnittlich fünf Rupien, etwa elf Cent. An guten Tagen verdient er rund 150 Rupien, etwas mehr als drei Euro. Davon schickt er 50 Rupien per Post seiner Familie, die 300 Kilometer entfernt in einem Dorf lebt. In Zeiten des Monsuns, wenn der Himmel tagelang trächtige Tropfen speit und die Straßen zu ertrinken drohen, können einzig die Rikschas den öffentlichen Personenverkehr aufrecht erhalten. Dann steht Sumit Bharati bis zur Hüfte im Wasser und kämpft sich durch die schlammigen Fluten. Dannüft verdient er das Doppelte. "Dann sind wir die Stärkeren", ballt er die Faust. Das Glöckchen an seinem Handgelenk bimmelt aufgeregt, als er das sagt.

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