Tibet-Bahn - Mit dem Zug aufs Dach der Welt

Nicht nur Technik-Freaks kommen bei der Fahrt nach Lhasa auf ihre Kosten.

Xining. Über den Bahnhofsvorplatz von Xining fegen staubbefrachtete Windböen. Die Menschen drehen sich mit dem Rücken gegen den Wind oder senken die Köpfe, damit er ihnen keinen Sand in die Augen weht. Es herrscht Aufbruchstimmung, die einen nehmen atemlos die letzten Stufen auf den Vorplatz, die anderen packen sich ungeheure Lasten auf den Rücken. Alle haben das eine Ziel: den Zug nach Lhasa!

Im Wartesaal für die 2.und 3.Klasse herrscht drangvolle Enge. Dicht an dicht sitzen die Menschen zwischen ihren Gepäckstücken und warten auf die Abfahrt des Zugs.

Eng geht es auch im Wartesaal für die 1.Klasse zu. Wir müssen hier noch ein Dokument ausfüllen, aus dem hervorgeht, dass wir uns der Risiken bewusst sind, die mit einer Fahrt verbunden sind, deren höchster Punkt der Tanggula-Pass (5072 Meter) ist.

Danach geht es auf einer durchschnittlichen Höhe von 4000 Metern weiter, einer Höhe also, auf der durchaus die Höhenkrankheit droht. Aber weder Chinesen oder Tibeter noch Westeuropäer lassen sich davon abschrecken.

Dann endlich steht der Zug abfahrbereit im Bahnhof. Wir machen es uns in unserem Abteil bequem. Die Zugbegleiterin, eine sympathische Chinesin, bringt die Sauerstoffmasken und weist auf die Sauerstoffdüsen am Kopfende des Betts hin, zugleich fordert sie mit einem Lächeln Fahrkarte, Pass und eben das zusätzliche Dokument.

Der Zug ruckelt gegen 20 Uhr los, die Welt draußen versinkt in einem grauen Abendhimmel. Wir scheinen die einzigen westeuropäischen Touristen zu sein. In den Waggons der 2. und 3.Klasse sind vornehmlich Tibeter, zwischen großen Gepäckstücken eingekeilt. Im Speisewagen tummelt sich vor allem chinesisches Personal: Schaffner, Köche, Bedienung. Sie machen Pause, mancher greift dabei zur Zigarette.

Der interessantere Streckenabschnitt beginnt hinter Golmud. Mit Lautsprecherdurchsagen in chinesischer und englischer Sprache werden wir auf die Vorzüge der Tibet-Bahn und deren ökologische Vorteile aufmerksam gemacht.

Auch die eher kritische Literatur räumt ein, dass die seltene Tibetantilope seit der Fertigstellung der Bahn in ihrem Bestand stabilisiert wurde. Rechts und links der Trasse laufen hohe Absperrgitter mit, die Unfälle mit Mensch und Tier verhindern sollen. Damit Nomaden mit ihren Herden wandern können, sind mehr als 30 Tunnel für den Wechsel angelegt worden.

Beim Blick nach draußen merkt man, wie sich die Landschaft allmählich verändert, das spärliche Grün, das auf der Hochebene zwischen Xining und Golmud vorherrscht, ist nun von Schneeflecken durchsetzt, Wasserflächen haben eine dünne Eisschicht, die Berge werden schroffer.

Schneegipfel blitzen zwischen grünen Kuppen auf. Bis endlich die Trasse des Zuges nur noch durch Schnee und Eis führt. Die Eisriesen verschmelzen mit den weißen Wolken am Himmel. Tibet - das Schneeland, hier zeigt es sich in voller Schönheit.

Nach Überwindung des Tanggula-Passes werden die Weiden wieder saftiger und grüner. Erst vereinzelt, dann aber in Herden kann man Ziegen und Yaks beim Grasen beobachten. Manchmal sieht man ganz in ihrer Nähe Hirten, die auf dem Boden lagern. Kleinere und größere Siedlungen reichen bis fast an die Trasse.

Nahe Lhasa verlaufen die Gleise fast parallel zum Fluss. Endlich, nach gut 24-stündiger Fahrt, erreichen wir die Vororte Lhasas mit ihren typisch tibetischen Häusern. Auf ihren Mauern flattern Gebetsfahnen. Dann rollt der Zug im Bahnhof von Lhasa ein - rund 3700 Meter über dem Meeresspiegel.

Ein "Projekt am Rande des Möglichen" nannte vor Jahren ein Geo-Heft den Bau dieser Eisenbahnlinie. Die Tibetbahn ist höher gelegen als jede andere Bahnstrecke der Welt, und viele Jahre galt diese Zugverbindung auf das Dach der Welt - ein Projekt, das schon Mao in den 50er Jahren verfolgte - als nicht möglich.

Und tatsächlich waren die Probleme gewaltig, vor denen die mehr als 100000 Arbeiter und Ingenieure standen, die im Jahr 2000 mit dem Bau der 1125Kilometer langen Strecke von Golmud nach Lhasa begannen. Rund 960 Kilometer dieser Strecke, als fast 90Prozent, liegen in Höhen über 4000 Meter, 550 Kilometer führen über Permafrostböden.

Viele Experten glaubten, allein daran schon müsse das Projekt scheitern. Denn: Permafrostböden sind bis in eine Tiefe von 30 Metern gefroren. Taut im Sommer die Oberfläche auf, kann das Schmelzwasser nicht versickern, weil die Tiefe weiter gefroren ist. Die Folge: Die obere Schicht wird zum Sumpf, in dem jede Trasse versinken müsste.

Die Lösung der Chinesen kann jeder Fahrgast entlang der Strecke zehntausendfach in der Sonne glänzen sehen: spezielle Stahlröhren, luftleer und mit Ammoniak gefüllt. Fünf Meter tief im Boden, schauen die Stäbe drei Meter aus dem Erdreich heraus. Die Ingenieure machen sich zu nutze, dass auch im Sommer die Lufttemperatur in diesen Höhen unter null Grad liegt.

Das flüssige Ammoniak verdunstet in der Tiefe schon bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt, die Verdunstungskälte steigt auf und hält die oberen Erdschichten auch im Sommer gefroren. Am oberen Ende wird der Ammoniakdampf wieder flüssig und sinkt nach unten.

Sechs Jahre dauerte der Bau, rund drei Milliarden Euro kostete er. Am 1. Juli 2006, dem 85. Jahrestag der Gründung der KP Chinas, fuhr der erste Zug von Golmud nach Lhasa.

Inzwischen wurden schon mehr als zehn Millionen Passagiere gezählt: Chinesen, Tibeter und natürlich Touristen. Und 75 Prozent aller Waren von und nach Tibet werden nun auf der Schiene transportiert.

Das ehrgeizige Projekt hat noch nicht sein Ende gefunden. Bis 2017 soll die Strecke nach Shigatse im Westen Tibets und Nyingshi im Osten weitergeführt werden. Eine Verlängerung nach Indien und eine Trasse nach Nepal sind ebenfalls schon in der Planung.

Kritiker haben viele Vorbehalte gegen den Bau der Tibet-Bahn geäußert: Überfremdung Tibets mit Han-Chinesen, Zerstörung der tradierten Kultur und der tibetischen Identität, Übermaß an Touristen, Verlust des ökologischen Gleichgewichts, Raubbau an den Ressourcen.

Vielleicht aber kommt die Eisenbahn nur zu spät. Sie wäre im 19. Jahrhundert in der allgemeinen Fortschrittsbegeisterung in den industrialisierten Ländern vehement begrüßt worden.

Mit der Tibet-Bahn sind die vielen Güter des täglichen Lebens wesentlicher leichter zu transportieren. Und wer da behauptet, dass vor allem chinesische Billigwaren die Basare überschwemmen, der möge in ihnen nachfragen, woher die Dinge stammen: aus Indien, Nepal, Pakistan.

Wirkt es nicht ein bisschen naiv, wenn man einerseits den Verlust an autochthoner Kultur durch den Bahnbau befürchtet, aber andererseits begrüßt, dass von den modernen Kommunikationsmedien ungehemmt Gebrauch gemacht wird? Da springen Mönche hurtig die Tempeltreppen hoch, während sie mit dem neuesten Blackberry telefonieren.

Auch Nostalgiker, die der überlieferten mystischen Welt nachtrauern, müssen sich darauf einstellen, dass Tibet sich auf dem Weg der Veränderung befindet. Wer das Mystische sucht, wird es gleichwohl überall in Tibet finden.

Wenn er denn eine Fahrt mit der neuen Tibet-Bahn wagt.

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