„Where the fuck is the Führer“ - Ein Berlin-Guide erzählt

Berlin (dpa) - Abends lag Christian Seltmann (47) mit dem Kopf nach unten auf dem alten Perserteppich. Vor Erschöpfung: Das Leben als Berliner Guide ist schön, aber anstrengend. Mehrere Jahre lang hat Seltmann Touristen Berlin gezeigt.

„Where the fuck is the Führer“ - Ein Berlin-Guide erzählt
Foto: dpa

Etwa 500 Mal war er mit dem Fahrrad, dem Segway-Roller oder zu Fuß unterwegs.

„Where the fuck is the Führer?“ heißt sein Buch. Solche Fragen hat er oft gehört. Amerikanische Touristen interessieren sich nun mal besonders für Adolf Hitler. Und wegen der Nazigeschichte nennen sich Seltmann und seine Kollegen lieber „Guides“ und nicht „Führer“.

In Berlin boomt der Tourismus nach wie vor: 2014 kamen fast zwölf Millionen Besucher. In den vergangenen zehn Jahren ist der Markt für Stadtführungen groß geworden. Touristen, die wackelig auf Rädern oder Segways zwischen Reichstag und Fernsehturm herumkurven oder wie angewurzelt auf dem Radweg stehen - das gehört zum Stadtbild.

Wer da unterwegs ist: Schweizer, die viel Trinkgeld geben, oder Westfalen, die eher „Billigheimer“ sind. Oder Lehrer. Die plagen Seltmann und wollen Sachen wissen wie: „Die Schlacht bei Lützen - wie groß war die Armee der Österreicher da noch?“ Sein genereller Trick: Wenn er jemanden einzeln anspricht, dann siezt er ihn, die Gruppe wird geduzt. So hat er die Gruppe auf lockere Weise unter Kontrolle.

„Adolfiges“ (Seltmann) gibt es bei seiner City-Tour gar nicht mal so viel: den Bebelplatz, das einstige Reichsluftfahrtministerium von Göring (heute genutzt vom Bundesfinanzministerium) und das Gebäude der Reichsbank (heute Teil des Auswärtigen Amts). Vieles von dem, was Amis und Engländer sehen wollten, sei heute nicht mehr vorhanden, schreibt der Guide. Wo Hitlers Reichskanzlei stand, steht heute ein DDR-Wohnblock. Das Holocaust-Mahnmal ist nach Meinung Seltmanns das einzige Sichtbare, das man den Touristen in Berlins City zeigen kann, was wirklich mit der Nazizeit zu tun hat.

Den Rummel am Checkpoint Charlie meidet der Historiker. „Geheimtipps“ hat Seltmann auch parat, etwa das Café in der Buchhandlung „Ocelot“ oder die Mensa der Hanns-Eisler-Musikschule. In Exkursen erklärt er die Welt der Hipster und Bärte bei Männern, was vom Thema abschweift. Natürlich hatte er bei seinen Touren auch nette Leute. Es sind nicht alles Nervensägen.

Seltmann, der aus der Nähe von Lüdenscheid in Nordrhein-Westfalen kommt und in den 90er Jahren nach Berlin zog, erzählt neben Anekdoten einiges Interessantes über das Tourismusgeschäft. Da gibt es die Guides und die „Shoppys“, die im Laden schuften. Geprägt ist die Szene von den „Expats“, den zugezogenen Ausländern. „Was für den jungen Hemingway in den Zwanzigern Paris war, das ist Berlin heute für Tausende von Amerikanern, Australiern, Spaniern, Katalanen und Kanadiern. (Habe ich wen vergessen?)“

Das echte Berlin findet Seltmann am Rosenthaler Platz. Da ist „die ganze Berlin-Mischpoke, von der man stets in Spiegel, Zeit und Stern liest: die Werber, die Künstler, die Internet-Heinis, die Studentinnen auf Retrofahrrädern, die Schwulen, die Musiker, die Eltern, die Bauarbeiter, die Galeristen. Alle!“

Der Touranbieter im Buch heißt anders als in Wirklichkeit. Die Geschichten sind laut Seltmann zum Teil verdichtet, aber nicht ausgedacht. Als er Vater wurde, legte er eine Pause als Guide ein und arbeitet heute als Kinderbuchautor. Er kann sich aber vorstellen, wieder Touristen herumzuführen, erzählt Seltmann der Deutschen Presse-Agentur. „Das macht wirklich richtig Spaß.“ Dass Berlin als Stadt gerne als „over“ heruntergeschrieben wird, sieht der Kenner gelassen: „An einer großen alten Dame mit so viel Geschichte perlt das ab.“

Literatur:

Christian Seltmann: „Where the fuck is the Führer“ - Als Touri-Guide in Berlin, Ullstein Verlag, Berlin, 256 Seiten, 9,99 Euro, ISBN-13: 978-3-548-37581-6

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