Andorra Winzig klein und blitzsauber

Zwischen den Gipfeln von zwei Prinzen regiert und nie in den Klatschspalten der Illustrierten - unterwegs im Pyrenäen-Fürstentum.

Andorra: Winzig klein und blitzsauber
Foto: Helge Sobik

Andorra La Vella. Plötzlich ist alles wieder so, wie es gehört. So, wie man es erwartet. Von irgendwoher läuten Kirchturmglocken, deren Klang im Tal von den Bergen hin und her geworfen wird. Aus einem geöffneten Fenster klingt Gitarrenmusik. Vor einer Tapas-Bar plaudern und lachen noch ein paar Menschen, während jemand mit zwei wuscheligen Pyrenäen-Hütehunden an der Leine vorbeiläuft.

Andorra: Winzig klein und blitzsauber
Foto: Helge Sobik

Plötzlich ist wieder der Wind zu hören, zu spüren, die Bergluft zu schmecken. Auf einen Schlag hat sich aller Trubel gelegt, ist alles Geschiebe vorbei, der Alltag zurückgekehrt: ein Samstagabend in Andorra La Vella, der Hauptstadt von Andorra. Gleich nach Geschäftsschluss ist das Fürstentum wieder ein stilles Land in den Pyrenäen geworden, gerade 468 Quadratkilometer groß.

Dann sieht es auch in den eben noch verstopften Straßen der Hauptstadt wieder aus wie in Encamp oder Canillo, wie in La Massana und Ordino weiter oben, sogar wie in den Dörfern weit abseits. Ralph Lauren ist im Tal geblieben, Calvin Klein kam nie über 1100 Meter hinaus.

Armani macht es nicht anders als Hilfiger, als Rolex & Co. Sie bleiben seit jeher dort, wo sich vor allem an Freitagen und Sonnabenden die Menschen drängen — dort, wo Andorra dicht bebaut ist, die Parkplätze schnell knapp werden, die Nadelwälder und Wiesen, die klaren Bäche und die grünen Hochtäler gefühlt in großer Ferne sind. Die Edel-Marken türmen sich in den Auslagen der Geschäfte unten in der Hauptstadt, liegen in den Regalen und Vitrinen der Boutiquen. 22.000 Einwohner hat die Kapitale des Pyrenäen-Fürstentums, des sechstkleinsten souveränen Staates Europas.

An manchen Tagen fühlt es sich an, als wären es in Wirklichkeit ein paar Mal so viele Menschen, die sich hier auf wenig Raum tummeln und mit Freude zwischen Exklusivem und Schnäppchenware einkaufen gehen. Warum das so ist? Andorra gilt als Shopping-Paradies — wegen der niedrigen Zölle, der niedrigen Mehrwertsteuer. Luxusmarken sind spürbar günstiger als nebenan in Spanien oder in Frankreich.

Die Nachbarn kommen vor allem Ende der Woche in langen Autokolonnen, um Beute zu machen — ob mit Marken-Logo oder ohne. Dabei verläuft sich auch dann aller Andrang schnell, sobald man die Hauptstadt wieder verlassen hat und das Land plötzlich an Weite zu gewinnen scheint. Und nach Ladenschluss sowieso, wenn die Metropole mit all den Geschäften und den sechs Stockwerke hohen Wohntürmchen wieder zu dem wird, was sie eigentlich ist: ein Bergdorf — nur ein bisschen aus der Form geraten vielleicht, eilig in die Höhe gewachsen. Nicht der schönste Flecken in diesem Land. Wo Andorra noch wie damals ist, bevor es Einfuhrzölle, Mehrwertsteuer und Schlussverkäufe gab? Weiter oben in den Bergen. Abseits der Straßen. Wie man am besten in dieses alte Andorra kommt? Erst mit dem Auto, dann weiter zu Fuß. Vielleicht ein Stück weit mit der Seilbahn.

Hotels gibt es selbst hoch oben, dazu stille Seen und viele ausgeschilderte Wanderwege. Manchmal macht er es aus Spaß sogar mitten im Sommer, oft macht er es im Frühling. Dann kommt er plötzlich ganz kurz noch einmal zurück und tupft über Nacht die Bergspitzen wieder weiß, klebt ein paar Flocken in die Tannen ein paar hundert Meter tiefer, malt ein paar Eiskristalle an die Fenster. Der Winter ist in Andorra nie weit — nicht in einem Land, das kleiner ist als die Insel Ibiza und es doch auf 65 Gipfel bringt, die die 2000-Meter-Grenze überschreiten.

Er ist nicht weit dort oben mitten in den Pyrenäen, eingezwängt zwischen Spanien und Frankreich. Trotzdem räumt die Sonne fast überall und fast immer schon im Laufe des Vormittags wieder auf und schmilzt die Spuren des nächtlichen Niederschlags.

Die Luft ist besonders klar an solchen Tagen, und manchmal dauert es bis zum Mittag, bis die Moose neben den Wanderpfaden wieder so weit aufgewärmt sind, dass sie als Picknick-Plätzchen taugen, als Logenplatz mit Aussicht auf all die Berge drumherum — auf Granit, der den Blick auf Andorra La Vella verstellt — auf Ralph Lauren, Tommy Hilfiger und all’ die anderen da unten in den Regalen. Aus kleinen Quellen gurgelt es, und irgendwann hat auch die Blümchen im Gras die Nachricht erreicht, dass die Sonne scheint, die Temperaturen steigen und prompt klappen sie ihre Kelche auf. Bald sind die Vögel da. Erst die Singvögel, manchmal auch die Adler auf Patrouillenflug, die von noch weiter oben zuschauen. Ehe das alles zu romantisch wird, bellt von irgendwoher ein Schäferhund mit tiefer Stimme dazwischen und sagt in seiner Sprache, dass der Bauernhof da vorn ihm gehöre.

Den relativen Reichtum sieht man diesem Land an. Baufällig ist dort fast nichts, und wirklich alt sind nur die Kirchen. Andorra ist blitzsauber, einmal runderneuert. Anlage-Milliarden vieler Kontobesitzer machen es indirekt möglich, und niedrige Einkommensteuersätze haben es schon lange für viele erstrebenswert gemacht, sich um die Staatsbürgerschaft zu bemühen, eine Villa am Hang zu bauen, ein altes Gehöft einmal um sich selbst zu krempeln und zum Luxus-Domizil umzubauen. Oder wenigstens in eine ultramoderne Zweitwohnung mit Panoramablick in Richtung irgendeines Bilderbuch-Tales zu investieren.

Was von all’ dem Geld nebenbei in den Staatskassen hängen blieb, wurde in Infrastruktur und Antlitz investiert. Dabei geht es dort kaum einem ums Sehen und Gesehen werden, eher um das Gegenteil davon. Andorra ist weniger klatschhaft als Monaco, gänzlich uneitel im Vergleich. Und kaum jemals taucht das Fürstenhaus in den Spalten der Illustrierten auf — obwohl es zwei gleichberechtigte Prinzen gibt, die das kleine Land regieren.

Seit vielen Jahrhunderten ist das so. Aus derselben Familie sind sie nie. Ein einmaliges Konstrukt: Der eine ist als Rechtsnachfolger des französischen Königs stets der gerade amtierende Präsident von Frankreich, der andere der Bischof von Urgell auf spanischer Seite der Grenze. Sie beide führen den Titel „Ko-Prinzen von Andorra“.

Das Prinzip hat sich bewährt: Seit 1278, als noch niemand darüber nachdachte, dass Andorra La Vella mal ein Shopping-Reiseziel werden könnte. Die beiden sind selten da, noch seltener gemeinsam. Und zum Wandern in den Bergen verabredet haben sie sich angeblich noch nie. Ganz sicher ein Fehler.

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