Hohe Töne in Erfurt: Der Glockenspieler vom Bartholomäusturm

Erfurt (dpa/tmn) − Carillonneur, wie wird man das denn? Ulrich Seidel schmunzelt: „Bei mir war es typische männliche Selbstüberschätzung“. 2007 sah er seinen Vorgänger das erste Mal spielen, oben im Bartholomäusturm.

Er hatte ihn für ein Filmdrehbuch über Erfurt besucht und dachte sich: „Das kann ich doch auch!“. In einem schallisolierten Kabäuschen entlockte Franz Ludwig mit Fäusten und Füßen über die Manual genannte Tastatur und über die Pedalerie den 60 Glocken über sich eine Melodie. Drei Jahre und etliche Übungsstunden später gab Seidel hier sein erstes öffentliches Konzert.

Heute setzt der 54-Jährige sich zweimal wöchentlich an eine leise Kopie des Carrillons, unten im 35 Meter hohen, 1412 gebauten Turm am Anger. „Das Übungscarillon wurde 1979, als das Glockenspiel zum 30. Jahrestag der DDR eingebaut wurde, gleich mit in den Turm gestellt“, sagt Seidel. Neuer ist der Monitor im Schaufenster des benachbarten Schuhauses Zumnorde. Hier können Zuschauer Seidel oder Gastspieler, die er einlädt, samstags alle 14 Tage zwischen Frühjahr und Herbst um 16.00 Uhr beim Spielen beobachten.

Manchmal spielt Seidel auch nur für eine Person, wenn ihn das „Hotel Zumnorde“ beauftragt. Das Lied für eine 80-jährige Jubilarin „Du bist die Welt für mich“ von Richard Tauber ging ihm allerdings nicht so leicht von der Faust. Er spielt lieber Stücke von Bach jahreszeitlich passende Melodien oder Eigenkompositionen.

Hauptberuflich kümmert sich Seidel um Geschichten aus der Geschichte Erfurts. So hat er einige Stadtrundgänge für Thüringens Hauptstadt beschrieben, Mitteleuropas älteste bis zum Dach erhaltene Synagoge oder Deutschlands älteste Nudelfabrik. 2004 hat er die Restauration der größten frei schwingenden mittelalterlichen Glocke der Welt, der Gloriosa im Mariendom, dokumentiert. Gerade hat er einen Reiseführer über Erfurt fertiggestellt.

Zur Zeit digitalisiert er das Konzertbuch seiner Vorgänger im Turm. Die hatten eine Dienstwohnung, durch deren Badezimmer die Turmtür führte, ein festes Salär und die Verpflichtung, dreimal am Tag zu spielen. „Durchs Badezimmer muss heute keiner mehr“, grinst Seidel, „damals aber durchaus auch Staatsgäste, die das Glockenspiel oben sehen wollten. Und die Leute kriegten hier ab und zu „Völker hört die Signale“ oder das Thälmannlied um die Ohren“.

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