Rhein-Herne-Kanal: Die Riviera des Reviers

Im Sommer tummeln sich an seinem Ufer Brückenspringer und Bewohner in Abwasserröhren. In diesem Jahr wird der Schiffsweg durch das Ruhrgebiet 100 Jahre alt.

Rhein-Herne-Kanal: Die Riviera des Reviers
Foto: Oliver Berg

Düsseldorf. „Ich springe!“, ruft Can. „Nein, warte noch!“, schreit Sven, „da kommt ein Schiff!“ Die Warnung kommt gerade noch rechtzeitig, denn Can steht auf dem Geländer einer alten schwarzen Brücke im Zentrum von Oberhausen.

Rhein-Herne-Kanal: Die Riviera des Reviers
Foto: Oliver Berg/dpa

Und jetzt sieht er es auch: Unter der Brücke kommt ein Schiff durch, ein ziemlich langer, breiter holländischer Frachter. Als der Frachter die Brücke passiert hat, stößt Can sich ab. Passanten bleiben stehen, Fahrradfahrer stoppen. Can fliegt. Dann spritzt das Wasser auf — Can ist weg. Das war er, der Sprung von der Brücke in den Rhein-Herne-Kanal.

Rhein-Herne-Kanal: Die Riviera des Reviers
Foto: dpa

100 Jahre ist er jetzt alt, dieser Rhein-Herne-Kanal. Aber seine wahre Bedeutung als „Riviera des Reviers“ erschließt sich nur an einem sehr warmen Sommerabend wie diesem, der die Wasseroberfläche versilbert.

Can ist aus dem Kanal geklettert und kommt die Brücke raufgerannt. „Wie war der Sprung?“ ruft er. Sven schreit etwas zurück, aber man versteht es nicht, denn jetzt donnert auf einer unmittelbar benachbarten Eisenbahnbrücke ein Güterzug über den Kanal, gefolgt von einer Straßenbahn auf einer anderen Brücke.

Es geht drunter und drüber am Kanal: Kaum ein anderer Wasserweg wird von so vielen Straßen und Gleisen gekreuzt. All diese Brücken sind mächtige Konstruktionen, so als sollten sie beweisen, dass es hier Eisen und Stahl noch immer im Überfluss gibt. Unsichtbar unter dem Kanal verborgen liegt das verlassene Netz der Stollen und Flöze, Schächte und Streben — die Bergwerke des einstigen Kohlenpotts.

„Los spring auch mal!“, sagt Can zu Sven. „Trausse dich nich?“ Can ist 17, Sven 14. „Wir sind Freunde“, sagt Can, obwohl sie sich erst seit heute kennen. Aber an so einem Sommertag am Kanal kann das schnell gehen. „Ich liebe das Brückenspringen“, schwärmt Can. Aber das ist aus gutem Grund eigentlich streng verboten und Can weiß auch warum: „Einer, den mein Bruder kannte, ist gesprungen und in den Sog einer Schiffsschraube gekommen und gestorben.“

Über den Brückenspringern ragt ein riesiger Stahlzylinder auf — einst Deutschlands größter Gasspeicher. Direkt daneben liegt ein beschaulicher Hafen mit weißen Jachten. Marcel und Stavros angeln dort nach Zander, Barsch und Aal. Eigentlich dürfen die zwei hier nicht angeln — schwimmen wird dagegen von der Wasserschutzpolizei toleriert, nur in der Nähe von Brücken, Schleusen und Häfen ist es verboten.

Ein Stück weiter, in Bottrop, gibt es am Kanal sogar Ferienwohnungen. Im Bernepark kann man in ehemaligen Abwasserröhren übernachten, die man zu diesem Zweck auf eine Wiese gerollt hat. Jedes Rohr ist groß genug für ein Doppelbett. Oben ein Bullauge, vorn eine Tür, die sich abschließen lässt. Mit etwas Fantasie fühlt man sich drinnen wie in einer Hobbithöhle. Bezahlen muss man nur so viel, wie man will. An diesem Tag gucken vier junge Frauen aus der Röhre. Der Blick geht auf einen Garten voller Gräser und Blumen, angepflanzt in einem früheren Klärbecken.

Die Freundinnen haben die letzte Nacht hier verbracht. „Es war fantastisch“, erzählt Julia (30), noch immer umgeben von Kuchen- und Käseresten, einer leeren Weinflasche und einem schon vertrockneten Blumenstrauß in einem Plastikbehälter. „Abends ist es hier ganz still. Ab und zu hört man einen Güterzug, sonst nur Vögel und Grillen. Wir hatten ein Picknick bei Kerzenschein und einem gespenstischen Licht von irgendeiner Kokerei.“

Noch ein Stück weiter Richtung Herne, im Nordsternpark von Gelsenkirchen, sitzen zwei muskelbepackte Männer am Kanal, Robin (19) und Arash (17). Sie kommen aus England, verbringen hier ihren Sommerurlaub und sind sich einig: „Es ist wunderbar hier. Das Wasser, die Schiffe, die Sonne. Wir sind aus Newcastle, bei uns wird’s nie wärmer als 25 Grad.“

Wenn die beiden etwas trinken oder essen wollen, erklimmen sie einen Trampelpfad durch struppigen Uferbewuchs und landen genau vor einer Imbissbude, in der es praktisch alles gibt: gekühlte Getränke, Kaffee, Currywurst, Pommes, Wassereis und Sahne-Hörnchen mit Erdbeerstücken drin.

Gleich wird die blaue Stunde den blauen Himmel ablösen. Um diese Zeit kommen fast nur noch Jogger wie Kevin vorbei. Ansonsten ist glucksendes Wasser und in der Ferne das gleichmäßige Rauschen der A3 zu hören. „Soll ich mal was sagen?“, fragt Kevin. Und dann sagt er es: „Das hier“ — er zeigt um sich herum — „das verbindet die Gesellschaft.“

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