DDR-Dopingopfer Ines Geipel: „Solche Körper gibt es nicht“

Die frühere Leistungssportlerin Ines Geipel über den Fall Armstrong, Superkörper und die Sucht nach Medaillen.

Düsseldorf. Früher war sie selbst Leistungssportlerin, heute ist sie eine der renommiertesten Doping-Kritikerinnen in Deutschland. Im Interview findet Ines Geipel klare Worte zum Thema Doping.

Frau Geipel, was haben Sie empfunden, als das Dopingsystem des Radprofis Lance Armstrong in allen Details aufgeflogen ist?

Ines Geipel: Es war ja erstaunlich, dass Armstrong in seiner Rechtfertigungsgeschichte auf das DDR-System Bezug genommen hat. Dort sei es viel schlimmer gewesen als bei ihm. So hat er versucht, sein knallhartes Betrugssystem zu relativieren. Aber Armstrong ist das modernste Desaster in dem Ganzen. Wie er sich über alles hinweggesetzt hat, über Teamkollegen, Freunde, Mitarbeiter und sie noch bedrohte — das war neu. Er ist gewissermaßen die Betrugs-Ikone des modernen Gladiatoren-Sports.

Kann man sein System und das DDR-System vergleichen?

Geipel: Nein, das DDR-System war politisches Doping, ein Zwangssystem. Armstrong war der Boss seiner Lüge.

Sie sprechen davon, dass das DDR-Zwangssystem zum Systemzwang geworden ist. Wie meinen Sie das?

Geipel: In der DDR hat der Staat ab 1974 die Chemie als konspirativen Plan im Sport eingesetzt. Heute ist der Athlet Teil eines Business-Systems, der seinen ganz eigenen Zwang aufbaut. Beide Systeme haben mit einem freien Sport nichts zu tun. Wenn wir aber diesen Bereich als Gesellschaft einfach preisgeben, dann geben wir auch einen Bereich preis, wo junge Menschen lernen, miteinander fair umzugehen. Das wäre fatal.

Wie fühlen Sie sich, wenn der Diskus-Olympiasieger Robert Harting als Sportler des Jahres unreflektiert gefeiert wird, obwohl er erklärte, er würde am liebsten seinen Diskus auf die DDR-Dopingopfer schmeißen?

Geipel: Harting hatte bei der Attacke ja mich gemeint, das ist leider meine Realität geworden. Es hat viel damit zu tun, was der DDR-Sport in der Identitätsgeschichte des Landes bedeutet hat. Er hat viel Beruhigung nach innen gebracht. Der Sport war das einzige, worin das Land groß war. Es ist für viele hart, diesen Schwindel anzuerkennen. Aber meine Position ist stoisch: Es darf nicht wieder zu so schweren Zugriffen kommen wie im DDR-Sport. Und die Geschädigten müssen in den Fokus rücken, wenn der Sport eine Solidargemeinschaft ist. Egal, ob das Herrn Harting passt oder nicht.

Wo ist die Kameradschaft hingekommen? Hat sich die Gesellschaft so rasant verändert?

Geipel: Es gibt im Sport einen neuen Chauvinismus Ost. Das lässt sich in Thüringen oder Brandenburg ganz gut beobachten. Nach dem Ende der juristischen Aufarbeitung sind viele Altlasten still und leise wieder ins System zurück, haben gute Stellen und verteidigen das als neue Macht. Wenn man fragt, wie kann das sein, dass der Geschäftsführer Sport im Landessportbund Brandenburg eine richtig fette Stasi-Akte hat, dann fragen die: Wie kann man so eine blöde Frage stellen? Der Sport ist doch unser Zuhause, wir haben doch immer hier gesessen. Und der Westen spielt dabei auch keine gute Rolle.

Sind wir bezüglich des Profisports also in Gaga-Land, wie Sie 2012 nach dem Olympiasieg der US-Frauen-Staffel über 4 x 100 Meter in London mit Weltrekord sagten?

Geipel: Ja, der Trend ist eindeutig. Die Chemie, die heute in den Sportkörpern ist, kommt in kein Testsystem. IGF-1, Aicar, GW 15/16 — gruselige Dinge. Die Körper, die in London solche Superrekorde laufen, solche fettarmen Körper gibt es nicht. So eine Physiologie kann man nicht trainieren. Was den Event-Sport angeht, da sind wir in Gaga-Land.

In Ihrem Buch „No Limit“ beschreiben Sie eine gruselige Entwicklung in Sachen Doping. Wieso ist das unserer Gesellschaft egal?

Geipel: Wir sind an einem entscheidenden Punkt, was die Körpergeschichte angeht. Die Chemie, um die es jetzt geht, bedeutet eine wirkliche Veränderung in der Tiefe. Und all diese Substanzen wie molekulares Doping oder etwa IGF-1 sind dabei wie immer nicht ausgeforscht. Das ist eine kreuzgefährliche Situation.

Müsste der DOSB unter seinem Präsidenten Thomas Bach nicht eine ganz andere Haltung haben, vor allem seine Medaillenziele überdenken?

Geipel: Wir können lange darüber reden, was wir uns wünschen, nämlich, dass die, die Verantwortung in dem Bereich haben, wirklich auch ihren Job machen. Wir sehen leider, dass das nicht so ist.

Was also tun?

Geipel: Solange wir das als Gesellschaft tolerieren, solange wir um jeden Preis Fans sind und die Medaillen brauchen, werden wir auch diesen entgrenzten Sport haben.

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