Fußball-Experte Hardy Grüne: Das Gras riechen, den Ball hören

Porträt: Wenn es um Fakten rund um den Fußball geht, ist Hardy Grüne die erste Adresse. Um Statistik geht es ihm aber nicht. Der Autor will der Faszination dieses Sports nachspüren.

Düsseldorf. Staunende Rezensenten zweifeln bisweilen, ob es ihn überhaupt gibt. Ob er nicht ein Phantom ist, von seinem Verlag als Kunstprodukt kreiert, hinter dem sich eine Schar fleißiger Ghostwriter verbirgt. Unfassbar scheint manchem, wie Hardy Grüne mit einer atemberaubenden Informationsflut seine Mammutwerke überborden lässt.

39 Bücher hat er geschrieben, an weiteren 44 als Co-Autor und Herausgeber mitgewirkt. Alle über Fußball, den Volkssport Nummer Eins, voll mit Fakten, Namen, Zahlen, Anekdoten.

Kaum ein Stadiongänger kennt ihn, aber durch ihn wird Fußball erst rund. "Großmogul der Fußballstatistiken" bauchpinselten ihn die Medien. Den Begriff Statistiker hört der 45-jährige Niedersachse nicht gerne. "Eigentlich ist es mir egal, ob im Geburtstag von Michael Ballack ein Zahlendreher ist."

Hardy Grüne versteht sich vor allem als Historiker, Fan und Globetrotter, der der Faszination des Lederballs mit nimmersatter Neugierde rund um den Erdball nachspürt. Getrieben von seinem Interesse für fremde Kulturen, leiert er in seinen hochgelobten Standardwerken über deutsche und internationale Vereine, Ligen, Spieler, Trainer, Stadien, Europa- und Weltmeisterschaften nicht das populäre Kauderwelsch runter, sondern schärft des Lesers Blick für soziale, geschichtliche, kulturelle und politische Zusammenhänge.

Ein begnadeter Fußballer war er nie. Zu mehr als Torwart im Fanclub-Team von Göttingen 05 reichte es nicht. Dennoch hat Grüne mehr Sportplätze in seinem Leben betreten als gestandene Profis. Um die 1000 werden es gewesen sein, schätzt der Autor und Journalist. "Ich muss das Gras riechen, den Ball hören, dann lebe ich den Fußball." Und einen Plausch mit dem Platzwart anfangen. "Dann kriegst du ein Gefühl für den Klub, dessen Heiligstes du betrittst."

Es ist der Kick an der Basis, der den gebürtigen Dortmunder fesselt. In Langenhagen, einem Dorf nahe der früheren innerdeutschen Grenze, wo Grüne mit Freundin Bürte ein altes Haus besitzt, ist ihm Traktor Weißenborn allemal lieber als Bayern München. Samstags vor dem Fernseher schimpft er über das Millionengeschäft Bundesliga. "Hier wird eine Wichtigkeit vorgegaukelt, die konstruiert ist, weil sie nur streng wirtschaftlichen Interessen folgt."

Der Beginn einer großen Liebe: Göttingen 05 spielte im Jahnstadion gegen die SpVg. Erkenschwick.

Während der WM ’74 packte den 11-Jährigen das Fieber. Die Niederlande spielten im Dortmunder Westfalenstadion. "Die Stadt war voller Holländer. Alles in Orange, das fand ich klasse." Als er mit dem Papa ein Jahr später nach Göttingen umzog, parkte dieser den noch vollbeladenen Möbelwagen auf dem Weg ins neue Domizil spontan vor dem Jahnstadion. "Gegner war die SpVg. Erkenschwick. Mein erstes Spiel, das ich live sah." Jung-Hardy, der später noch die Underdogs En Avant Guingamp (Frankreich) und Bristol Rovers (England) zur Herzenssache erkor und mindestens einmal jährlich deren Heimspiele bereist, entdeckte seine erste Liebe. Jahrelang prangte später ein Aufkleber auf seinem Auto: "Es gibt wichtigere Dinge als Fußball: SC Göttingen 05." Bis zum tragischen Ende, der Insolvenz 2003, begleitete er Nullfünf treu.

Zwischenzeitlich widmete er sich in der 05-Geschäftsstelle der Fanpost und begann, Vereinswappen in Form von Anstecknadeln zu sammeln. Die erste stammte vom Bonner SC 01/04. Was steckt hinter dieser Zahlenkombination? Eine Frage, mit der die Geburtsstunde des Forschers Grüne schlug.

Weil 600 Mark Bafög während seines Studiums nicht reichten, vergrub sich Grüne in Archive und publizierte Biografien von Fußballvereinen. "700 werden es gewesen sein, als Hefte gebunden", erinnert er sich an die frühen 90er, als er das Fundament für seinen Ruf als lebende Datenbank legte.

Der Agon-Sportverlag wurde aufmerksam und besetzte mit dem jungen Workaholic eine Marktlücke. 1994 erschien das erste Buchformat, das Who’s Who deutscher Vereine. Die 2000er-Auflage war binnen drei Monaten ausverkauft, die Enzyklopädie des europäischen Fußballs 1995 ebenso rasch vergriffen. Nach "100 Jahre Hannover 96" gab der Verfasser die Uni dran.

Der bestverkaufte seiner Wälzer ist mit 15000 Stück die "WM 1930 bis 2006", ein kiloschweres Nachschlagewerk, das Grünes Renommee zusätzlichen Schub verlieh. Mit der "Weltfussball-Enzyklopädie" bastelt er gerade an seinem Meisterwerk, dem umfassendsten Kompendium, das je im Fußball vorgelegt wurde. Teil 1 (Europa, Asien) ist erschienen, Teil 2 (Afrika, Amerika, Ozeanien) soll im Frühjahr 2009 folgen.

Zuverlässigste Quelle ist sein heimischer Fundus. Gut 5000 Fußballbücher stehen in seinen Regalen, eine größere Abstellkammer ist vollgestapelt mit Fachgazetten aus zig Jahrzehnten, allen voran der "Kicker" und "France Football". Bibliotheken und Internet konsultiert er, korrespondiert mit Fans, Landeskennern und Uni-Professoren.

Tagtäglich stürzt sich Grüne derzeit in die monströse Aufgabe, an jedem Zipfel auf dem Globus den Beweis für das zu finden, was unsere Welt eint: der Tritt gegen das Leder.

Wenn der Autor sich zum Beispiel Haiti vorknöpft, verquickt er Fußball mit Kolonialherrschaft, politischen Wirren und Diktatur, dem Einfluss der Amerikaner und Exil-Haitianern in den USA, er flucht, weil über Rekordmeister Racing Club Haitien nichts rauszukriegen ist, strahlt, als er die Geschichte vom Länderspiel der Haitianer gegen Brasilien vor vier Jahren einflicht, das in Port-au-Prince den hoffnungslosen Karibikstaat für einen Tag ohne Waffen einte.

Auch wenn Sisyphus nicht fern ist, liebt Hardy Grüne das Puzzle, bei dem "aus einem Haufen Fakten ein konstruktives Bild entsteht". Bisweilen beschleichen aber auch ihn Zweifel: Hättest du nicht besser einen vernünftigen Beruf ergreifen sollen?

Doch dann wischen Fragen wie "Warum wechselte der Rugby-Verein Hannover 96 im Jahre 1901 zum Fußball?" Bedenken in ihm weg. "Als Forscher finde ich Fakten heraus, die es wert sind, weitergetragen zu werden."

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