Die geschockten Weltmeister

Hannover (dpa) - Nach dem zweiten Terror-Schock innerhalb von vier Tagen wollten die total verunsicherten Fußball-Weltmeister nur noch eines: So schnell wie möglich nach Hause.

Die geschockten Weltmeister
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„Das hat man schon gespürt, dass es die Spieler getroffen hat und dass sie auch verunsichert sind. Viele auch nicht wissen, wie es weitergeht am Wochenende“, sagte Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff im DFB-TV. Man habe gemerkt, „dass alle froh waren, dass sie nach dieser Länderspielreise nach Hause konnten, in ihr gewohntes Umfeld, zu Familie und Freunden“.

Die Verarbeitung der traumatischen Ereignisse nach der aus Sicherheitsgründen erzwungenen Länderspielabsage von Hannover nur gut 100 Stunden nach den direkt miterlebten Anschlägen vor dem EM-Finalstadion in Paris müssen die Nationalspieler bei ihren Vereinen im Liga-Alltag bewältigen. Ein Trio aus Dortmund muss schon am Freitagabend wieder ran.

Die schlimmste Länderspielreise hatte für Bundestrainer Joachim Löw und seine Spieler ein jähes und verstörendes Ende genommen. Zuspruch kam auch von der Kanzlerin: „Ich danke der Nationalmannschaft, dass sie bereit war, dieses Spiel zu spielen, denn sie hatte ja schwere Tage hinter sich“, sagte Angela Merkel am Mittwoch.

Nach der Absage der Niederlande-Partie wegen der Terror-Angst in Hannover war für den DFB das Wichtigste, „dass wir alle gesund nach Hause gekommen sind“, meinte Bierhoff. „Spieler, Betreuer, Trainer - aber natürlich auch, dass in Hannover nichts Schlimmeres passiert ist. Dass man nichts gefunden hat, auch wenn das Spiel abgesagt wurde.“ Ein Teil der Spieler war bereits am Dienstagabend abgereist.

Die Aufarbeitung der dramatischen Tage in Hannover und vor allem im vom Terror heimgesuchten EM-Gastgeberland Frankreich wird auch bei den Nationalspielern Zeit brauchen. Bis man sich zu den nächsten Länderspiel-Klassikern gegen England am 26. März in Berlin und drei Tage später in München gegen Italien wiedertrifft, vergehen gut vier Monate. Viel Zeit zur Aufarbeitung.

„Erst der Alltag in den Vereinen und die Gespräche zu Hause werden hier helfen“, sagte DFB-Teampsychologe Hans-Dieter Hermann im Interview auf der Verbandswebsite. Schon nach der Horrornacht von St. Denis hatte Löw das Gespräch mit ihm gesucht, um die nötigen Maßnahmen zu besprechen. „Natürlich geht es weiter und natürlich muss man den Blick nach vorne richten. Die Frage ist, wie schnell man das schafft. Das ist natürlich unterschiedlich“, hatte Löw vor den dann wieder aufwühlenden Stunden der Anschlagsangst in Hannover gesagt.

Der Gedanke an die EM-Titelmission in Frankreich im kommenden Sommer, die genau an dem Ort erfüllt werden soll, wo der Schrecken im Stade de France begann, ist erstmal in den Hintergrund getreten. Hermanns erster Rat war, möglichst schnell die „gewohnte Realität“ wieder herzustellen.

Für Reinhard Rauball, als DFB-Interimspräsident der Delegationsleiter auf der gesamten Zehn-Tage-Reise von München über Paris und Frankfurt nach Hannover, ist klar, dass die Erlebnisse an den Spielern hängen bleiben: „Nach dem heutigen Tag müssen wir uns um die Spieler kümmern und möglicherweise auch den Teampsychologen stark mit einbeziehen“, sagte der Präsident von Borussia Dortmund.

Das Nationalspieler-Trio seines Clubs, Mats Hummels, Ilkay Gündogan und Matthias Ginter, muss in der Bundesliga als erstes wieder antreten, wenn nur drei Tage nach der überstürzten Abreise aus Hannover am Freitagabend das Gastspiel beim Hamburger SV unter erhöhten Sicherheitsvorkehrungen ansteht.

Gündogan hatte vor der Absage des Niederlande-Spiels einen intensiven Einblick in die Gefühlswelt der schwarz-rot-goldenen Fußball-Helden gegeben. Auch die Nationalspieler seien „keine Maschinen“, sondern „Menschen mit Gefühlen. Auch wenn wir Profis sind, in dem, was wir machen, geht das nicht spurlos an einem vorbei.“

Noch nie hatte ein deutsches Länderspiel wegen Terrorgefahr abgesagt werden müssen. Noch nie erfolgte die Absage am Spieltag, ganze 90 Minuten vor dem geplanten Anpfiff. Im April 1994 wurde ein Test gegen England gestrichen, da die Gäste wegen der Symbolkraft des Spieldatums am 20. April - dem Geburtstag von Adolf Hitler - Ausschreitungen von Hooligans im Spielort Berlin fürchteten. Vor sechs Jahren wurde der Test gegen Chile in Köln vier Tage nach dem Suizid von Nationaltorwart Robert Enke abgesagt.

Diesmal waren die Nationalspieler schon auf dem Weg ins Stadion, als die Sicherheitsbehörden wegen einer akuten Bedrohung im ganzen Raum Hannover und speziell in der Arena keine Alternative sahen, als die Partie abzusagen. Sofort drehte der Weltmeister-Bus um, nach einem Zwischenstopp auf einer Polizeistation ging es Richtung Teamhotel in Barsinghausen. „Dass unsere Mannschaft innerhalb von vier Tagen zweimal so ein tragisches Erlebnis miterleben muss, war in meiner Vorstellungskraft nicht möglich“, sagte Rauball.

Dafür, dass die DFB-Auswahl in Frankreich oder Hannover das primäre Anschlagsziel gewesen sei, gebe es keine Erkenntnisse, betonte Rauball. Aber: „Mein Eindruck ist, dass der Fußball in Deutschland mit dem heutigen Tage in allen Facetten eine andere Wendung genommen hat.“

Die im November übliche sportliche Jahresbilanz fällt diesmal aus. Dass es erstmals in einem Jahr ohne großes Turnier unter Löw drei Niederlagen gab und die EM-Qualifikation holprig zu Ende gebracht wurde: Alles komplett unerheblich. Das 0:2 in Frankreich wollte sich Löw gar nicht mehr unter analytischen Aspekten anschauen, angesichts der Bombendrohung am Spieltag im Teamhotel und den schweren Stunden nach der Partie.

Für Löw steht am 12. Dezember schon wieder ein Paris-Termin an: Bei der Auslosung der EM-Gruppen. In den Turnier-Modus will der 55-Jährige erst schalten, wenn im Mai 2016 die konkrete Vorbereitung mit dem Trainingslager in Ascona am Lago Maggiore beginnt. Wie die November-Schrecken dann verarbeitet sind, wird auch für den erhofften EM-Erfolg entscheidend sein.

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