Schachgroßmeister Helmut Pfleger: "Carlsen ist Popstar und Flegel"

Schach-Großmeister und Experte Helmut Pfleger spricht über die laufende WM, die Charaktere von Carlsen und Anand und die Frage, warum Schach tatsächlich Sport ist.

Der amtierende Schachweltmeister, der Norweger Magnus Carlsen (re.) mit seinem Gegner, dem Inder Viswanathan Anand (li.) während der Schach-Challenge in Zürich.

Der amtierende Schachweltmeister, der Norweger Magnus Carlsen (re.) mit seinem Gegner, dem Inder Viswanathan Anand (li.) während der Schach-Challenge in Zürich.

Foto: Steffen Schmidt

Düsseldorf. In Sotschi stehen sich derzeit der Norweger Magnus Carlsen (23) und der Inder Viswanathan Anand (44) im Duell um die Schach-Weltmeisterschaft gegenüber. Wir sprachen mit dem deutschen Großmeister und einstigen TV-Schachexperten Helmut Pfleger über das Duell und dessen Potagonisten.

Schachgroßmeister Dr. Helmut Pfleger beim Simultanschach. Foto: Archiv

Schachgroßmeister Dr. Helmut Pfleger beim Simultanschach. Foto: Archiv

Foto: Knappe, Jörg

Herr Pfleger, gestern konnten Sie die WM-Partie nicht bis zum Ende verfolgen. Hat Sie das sehr geschmerzt?

Helmut Pfleger: Manchmal schmerzt es viel mehr, wenn man es bis zum Ende mitanschauen muss (lacht). Ich persönlich hoffe im Gegensatz zu den meisten anderen, dass Anand gewinnt.

Warum?

Pfleger: Weil er einfach viel sympathischer ist als Carlsen. Ich kenne ihn schon so lange persönlich. Mit Carlsen hingegen habe ich nichts zu tun.

Können Sie die beiden charakterisieren?

Pfleger: Anand ist einer, der über den Brettrand hinausschaut. Vielseitig interessiert, hochintelligent. Wobei: Der andere ist weiß Gott auch nicht dumm. Anand ist humorvoll, für gesellige Runden geeignet, dann ist er einer von allen. Magnus Carlsen hingegen ist eher abweisend, kann schroff und sogar flegelhaft sein, obwohl er aus einer sympathischen norwegischen Familie kommt. Mit seinen Freunden kann er auftauen, aber insgesamt hat er mehr Probleme im Umgang mit Menschen als der Anand.

Flegelhaft — gilt das auch am Brett?

Pfleger: Mühsam die Formen wahrend, das trifft es wohl. Man sieht es auch jetzt im Duell mit Anand: Carlsen lümmelt sich oft in seinen Stuhl. Das gehört sich einfach nicht. Am Montag beschrieben die Experten, Carlsen habe das Spiel nur weitergespielt, um den Gegner für den Folgetag zu schwächen.

Kann man einen Schachgegner müde spielen?

Pfleger: Das ist möglich und auch legitim. Carlsens große Stärke ist sein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Wenn andere sich auf die nächste Partie vorbereiten, spielt Carlsen Fußball und Volleyball mit seinen Freunden. Er hat einen gestählten Körper. Konditionell ist er im Vorteil, Anand ist zudem fast doppelt so alt. Warum soll er das nicht in die Waagschale werfen? Schach ist Sport. Wenn es irgendwie geht, spielt er jede Partie zu Ende. Das kann für den Verteidiger, der lange am Rande des Abgrunds wankt, sehr anstrengend sein.

Wer wird am Ende die Oberhand behalten?

Pfleger: Carlsen wird wieder gewinnen. Das Leben ist kein Wunschkonzert. Carlsen ist Weltranglistenerster, hat die beste ELO-Zahl aller Schachspieler der Welt.

Was bedeutet die?

Pfleger: Das ist die Bewertungszahl, ähnlich gibt es das im Tennis oder im Golf. Das heißt ganz einfach: Carlsen ist seit Jahren der beste Spieler in der Welt.

Auch der, den es jemals gab?

Pfleger: Nein, verschiedene Generationen kann man nicht miteinander vergleichen. Zum Beispiel war der Amerikaner Bobby Fischer einzigartig. Er hat seine Gegner demoliert. Oder Garri Kasparow — ein Riese! Nur haben sie alle nie gegeneinander gespielt. Aber: Carlsen ist gewaltig stark. Er ist nicht nur im klassischen, langsamen Schach, das jetzt bei der Weltmeisterschaft gespielt wird, Weltmeister. Sondern auch im Schnellschach und im Blitzschach. Ein Meister aller Klassen. Das spricht für sich.

Was lässt sich verdienen?

Pfleger: Die besten Zehn der Welt — und natürlich vor allem Carlsen und Anand — verdienen sehr viel mit Sponsorenverträgen, Turniergeldern, Antrittsgeldern, Vorträgen, oder jetzt auch mit der WM. In schlechten Jahren wenigstens eine Million Euro, vermutlich ein gutes Stück mehr. Die WM ist allerdings relativ schlecht honoriert. Der Gewinner erhält etwas mehr als eine Million Euro. Kasparow, Karpow, Kramnik — das sind alles Multimillionäre. Ein Wald, Feld- und Wiesen-Großmeister hingegen lebt natürlich mehr schlecht als recht. 2006 verlor Vladimir Kramnik gegen den Schachcomputer „Deep Fritz“.

Wie hat sich das Verhältnis von Computer zu Mensch entwickelt?

Pfleger: Kein Mensch kann noch mit dem Computer mithalten. Ein Computer wie „Fritz“ wird den Wettkampf immer gewinnen. Und trotzdem ist das menschliche Element sehr wichtig, der Horizont des Menschen geht bisweilen noch weiter als der des Computers, obwohl der hunderte von Millionen Stellungen pro Sekunde prüfen kann. Der Mensch gerade eine. Wenn ein Computer und ein Mensch zusammen gegen einen Computer spielen, gewinnt die Kombination aus Computer und Mensch.

Beruhigend, irgendwie.

Pfleger: In der Tat (lacht). Die Partien bei der laufenden WM sind vermutlich kräftezehrend.

Wie erholen sich Carlsen und Anand?

Pfleger: Anand ist im Kreis von Freunden beim Essen, um wieder herunterzukommen. Beide haben ihre Sekundanten dabei, die angewiesen sind, die ganze Nacht durchzuarbeiten. Sie entwerfen Strategien, während der Herr und Meister — so Gott will — eine ruhige Nacht verbringt, um sich beim Frühstück anzuschauen, was die Sekundanten präsentieren. Peter Leko, ein ungarischer Großmeister, hat mir mal gesagt: Er studiere tagsüber mit seinem Sekundanten verschiedene Varianten und lasse dann nachts seinen Computer über all diese Entwürfe laufen — wenn er selbst noch Sport mache.

Herr Pfleger, dass Schach Sport ist, haben Sie nachgewiesen.

Pfleger: 1981 habe ich als Mediziner in der Sportschule Grünwald den C-Kader des Deutschen Schachbundes versammelt. Die Akteure wurden verkabelt, in einer echten Turnierpartie haben wir bei ihnen dann bei einer besonders wilden, verwickelten Stellung, wo die Kontrahenten auch noch Zeitnot verspürten, das Ohrläppchen angezapft — zur Freude der Protagonisten, wie Sie sich vorstellen können (lacht).

Was kam heraus?

Pfleger: Die Werte sind vergleichbar mit denen anderer Leichtsportarten. Bei dem Schachspieler, der eigentlich doch so ruhig dasitzt, gehen im Körper Revolutionen vor sich.

Bleiben Carlsen und Anand auf Jahre an der Spitze?

Pfleger: Gegen Anand spielt die Biologie, er ist 44 und Vater. Das ist beim kraftstrotzenden Carlsen anders. Er ist sogar Model einer Modefirma, eigentlich der Popstar des Schachs. Er spielt mit Mark Zuckerberg, mit Bill Gates, geht in Silicon Valley ein und aus und sitzt in amerikanischen Talkshows. Er ist ein echtes Gesicht des Schachs. Viel mehr als der zurückhaltende Anand.

Und niemand kommt nach?

Pfleger: Es gibt Fabiano Caruana, der mit 22 Jahren noch jünger ist als Carlsen. Der ist ihm auf den Fersen. Vor kurzem hat er ein Turnier in St. Louis überragend gewonnen, da war Carlsen nur Zweiter. Eine Momentaufnahme, aber auch bei der ELO-Zahl ist er ihm auf den Pelz gerückt.

Und die Deutschen?

Pfleger: Da gibt es im Grunde niemanden. Das sind Welten.

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