Analyse: Ein reumütiger Steinbrück bekommt Rückenwind

Berlin (dpa) - Im Willy-Brandt-Haus spielt der Wind an diesem Abend eine bestimmende Rolle. Von dem Sturm, der sich da für die SPD zusammenbrauen könnte, wird vor 18 Uhr gesprochen. Und von dem Gegenwind durch Peer Steinbrück.

Als der rote Balken dann aber am Sonntagabend deutlich die 30-Prozent-Hürde nimmt, ist Erleichterung zu spüren - jedoch kaum Jubel. Ungläubigkeit herrscht über den nach oben schnellenden gelben Balken. „Das kann doch nicht wahr sein, fast zehn Prozent für die Loser von der FDP“, seufzt ein SPD-Anhänger.

Wohl und Wehe einer Partei - und in diesem Fall auch eine ganze Kanzlerkandidatur - können von ein paar tausend Stimmen abhängen. Spätabends um 23.42 Uhr ist klar: Es reicht sogar knapp für Rot-Grün. Damit bekommt Steinbrück die Chance für einen echten Neustart - und die Partei den so dringend benötigen Aufwind für die Bundestagswahl.

SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles betont bereits kurz nach 18.00 Uhr angesichts des vermiedenen Absturzes der SPD, Steinbrück bleibe selbstverständlich Kanzlerkandidat. Die Partei ist fast selbst etwas überrascht, dass es geklappt hat mit der Ablösung von Schwarz-Gelb in Hannover. Das soll nun auch die Blaupause für die Bundesebene werden.

Um 18.45 Uhr kommen Steinbrück und Parteichef Sigmar Gabriel nach unten in das Foyer der Parteizentrale. „Das wird ein gutes Jahr im 150. Jahr der SPD“, sagt Gabriel. Steinbrück räumt unter Applaus reumütig fehlenden Rückenwind für die Wahlkämpfer in Niedersachsen ein. Er wisse, dass er eine gewisse Mitverantwortung dafür trage. Das ist seine Botschaft: Bisher war nicht alles gut, jetzt wird's besser.

Der Sonntag hat gezeigt: In Niedersachsen hat die SPD nicht wegen, sondern trotz Steinbrück verhältnismäßig gut abgeschnitten. „Die haben einen guten Kampf geführt“, attestiert Altkanzler Gerhard Schröder. Steinbrück will nun zeigen, dass er das auch kann. „Die SPD wird sich unterhaken“, betont er. Man müsse die Themen in den Vordergrund stellen, die den Menschen unter den Nägel brennen. Sein Fazit: Die CDU habe in Niedersachsen sechs Prozent verloren, Rot-Grün bei der Bundestagswahl im September sei machbar. „Ich will gewinnen.“

Die Debatte um Steinbrück hat aber definitiv Spuren hinterlassen. Laut Wahlanalysen ist Steinbrücks Kandidatur bisher ein Mühlstein am Hals der SPD, er zieht die Partei in bundesweiten Umfragen herunter, zuletzt bis auf 23 Prozent. Die SPD drang zuletzt viel zu selten mit Inhalten durch, weil die Verteidigung des Kandidaten im Vordergrund stand. Die Parteispitze hofft, dass die Talsohle nun durchschritten ist. Steinbrück muss ein Rezept finden, wie das Blatt zu wenden sein könnte. „Mund abputzen und weitermachen“, lautet die Marschroute im Willy-Brandt-Haus. Steinbrück hat in Niedersachsen mit Dutzenden Einsätzen Kampfgeist gezeigt, sein größter Triumph wäre es sicher, es mit einem fulminanten Comeback allen Kritikern nochmal zu zeigen.

Aber letztlich könnten ihm nur starke Grüne zur Macht verhelfen. Die aber waren zuletzt nervös, weil die rot-grüne Perspektive zerrinnen könnte. Spätestens im Sommer, wenn die Umfragen bis dahin nicht deutlich besser sind für die SPD, könnte auf die Partei eine Schwarz/Grün-Debatte zukommen. Zwar wird dies vehement abgestritten, aber die Grünen haben großes Machtinteresse. Kommen doch nun die entscheidenden Jahre für ihr Herzensanliegen, die Energiewende.

Steinbrück hat sicher Fehler gemacht in der Debatte über seine Nebenverdienste in Millionenhöhe - und es war fahrlässig, sich in der nachrichtenarmen Weihnachtszeit mit den Worten zitieren zu lassen, das Kanzlergehalt sei im Vergleich zu Sparkassendirektoren nicht angemessen. Das größte Problem sind seine Glaubwürdigkeitswerte.

Linke Wähler nehmen ihm den Einsatz für höhere Spitzensteuersätze, Mietpreisbremsen, eine Banken-Bändigung und faire Löhne für die Kassiererin bei Aldi nicht unbedingt ab - und Wähler der Mitte sind enttäuscht von seinem Linksschwenk. So könnte Steinbrück am Ende zu beiden Seiten verlieren. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verpasst dem früheren Finanzminister derzeit die Höchststrafe: Sie ignoriert ihn.

Ein Mitglied der Bundesregierung meint: „Steinbrück demobilisiert mit seiner Art bisher die SPD.“ Eigentlich sei er ein unpolitischer Mensch, weil er kein Gespür habe, wann er was sagen könne und dürfe. SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann hatte Ende September prophezeit: „Peer Steinbrück ist der Angstgegner der CDU.“ Geworden ist Steinbrück bisher der Lieblingsgegner der Union. Er muss daher nun tatsächlich Rückenwind erzeugen und neue Schnitzer vermeiden - sonst bleibt die rot-grüne Machtperspektive nur ein laues Lüftchen.

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