Analyse: Großstadt-Wähler zwischen Hoffnung und Ratlosigkeit

Tel Aviv-Jaffa (dpa) - Wenn es nach Wählern in der säkularen Millionenmetropole Tel Aviv ginge, hätten Regierungschef Netanjahu und das rechts-religiöse Lager kaum eine Chance. Aber sie stellen nicht die Mehrheit in Israel.

Am Eingang der Schule Ironi Alef im Zentrum Tel Avivs hängen bunte Plakate aller Parteien. Viele junge Eltern mit kleinen Kindern streben zu den Wahlurnen. Bei strahlend blauem Himmel und sommerlichen Temperaturen nutzen viele den Weg zu den Wahllokalen für einen Spaziergang. Wähler, die für den Favoriten, Amtsinhaber Benjamin Netanjahu, stimmen wollen, sind jedoch kaum zu finden. „Man sagt, dass (die linksliberale) Merez-Partei doppelt so stark wie bisher werden wird“, sagt eine Wählerin.

Der 33-jährige Daniel hat gerade seine Stimme abgegeben. „Das Wahlergebnis wird mir sicher nicht gefallen, aber ich habe die Hoffnung trotzdem noch nicht aufgegeben“, sagt er in Hinblick auf einen erwarteten Sieg Netanjahus. „Ich fürchte allerdings, dass heute Abend die Depression kommt.“ Nach Schließung der Wahllokale um 21.00 Uhr MEZ kommen die ersten Prognosen.

Seine Freundin teilt die Einschätzung. „Wenn wir absolut keine Hoffnung mehr hätten, würden wir ja gar nicht wählen gehen“, sagt sie einschränkend. Sie seien „vorsichtig optimistisch“, meint die junge Frau. Der 82-jährige Mosche Nevo sagt, er habe nicht für Netanjahu gestimmt und halte den Regierungschef für einen Taktierer. „Aber ich sehe niemanden anderen, der die Fähigkeit hat, Israel anzuführen“, sagt er. „Ich kenne keine Persönlichkeit, die ihn ablösen könnte.“ Dennoch wünsche er sich einen Wandel in Israel. „So wie es jetzt läuft, ist es nicht gut.“

Am Eingang der Schule stehen Merez-Aktivisten ganz dicht neben Wahlkämpfern der ultrarechten Partei Habait Hajehudi (Das jüdische Haus) von Naftali Bennett. Bisher herrsche noch Harmonie zwischen beiden Seiten, sagen die Aktivisten lachend. „Wir verstehen uns mit allen“, sagt einer der Merez-Repräsentanten. Tel Aviv ist eine Hochburg der linksliberalen Partei. „Viele Wähler sind frustriert von den anderen sogenannten linken Parteien“, sagt Aktivist Eitan Schafir. „Daher wird erwartet, dass Merez deutlich zulegt.“

Doch auch am Stand von Bennetts Partei finden sich Interessierte. Eine blonde Frau nimmt einen Sticker mit. „Wir vertreten das ganze Volk Israel“, sagt der dunkelhaarige Aktivist, der selbst auch Israel mit Vornamen heißt.

Ähnlich ist das Bild in der alten arabischen Stadt Jaffa, die heute ein Stadtteil von Tel Aviv ist. Karen, eine 37-jährige Jüdin, weiß auch am Wahltag noch nicht, wen sie wählen soll. „Auf keinen Fall Bibi (Netanjahu)“. Die palästinensische Nachbarin von Karen, Ahlan (47), hat zum ersten Mal überhaupt in ihrem Leben gewählt. Sie habe ihre Stimme der arabischen Partei Balad gegeben. Ob es Frieden mit Netanjahu geben werde? „Inschallah“, sagt sie und lächelt unsicher.

Auch Amos (42) und Jael (37) wollen für linke Parteien stimmen: für Merez und Chadasch, eine arabisch-jüdische Partei. Aber sie machen sich keine Illusionen: „Netanjahu wird der nächste Ministerpräsident sein“. Ein palästinensischer Familienvater will die Arbeitspartei wählen: „Damit alles besser wird“, sagt er. Dass es mit Netanjahu Frieden mit den Palästinensern geben wird, glaubt er nicht: „Der will das doch gar nicht“. Auch mit der Gleichberechtigung der arabischen Israelis sei es nicht weit her.

Vor dem Wahllokal in der Hassan Arafes-Schule in Jaffa fasst ein Mann in mittleren Jahren seine Erwartungen an das Wahlergebnis so zusammen: „Mehr von dem selben Mist“. Er werde Chadasch wählen, weil er dagegen sei, dass Staat und Religion in Israel nicht getrennt seien. Ob er Jude sei? „Nicht wirklich, denn ich bin nicht religiös“, sagt er und fügt nach kurzer Pause hinzu: „Trotzdem wäre ich wohl ab 1939 in Deutschland in einem Transport gelandet“. Nach ihm kommt ein junger Palästinenser und wiederholt in gebrochenem Englisch nur immer wieder: „No Bibi, no Bibi.“

Vor dem Verteidigungsministerium in Tel Aviv stimmten zwei junge Soldatinnen sozusagen mit den Füßen ab: Gegenseitig fotografierten sie sich, wie sie mit ihren Militärstiefeln auf einem heruntergefallenen Wahlplakat mit Netanjahus Konterfei stehen.

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