Analyse: Indiens volksferne Politik

Neu Delhi (dpa) - Der Funken, an dem sich die Proteste entzündeten, war weit weg. Die von sechs Männern vergewaltigte Inderin kämpfte nicht in Neu Delhi, sondern in einem Krankenhaus in Singapur um ihr Leben.

„Eine politische Entscheidung“, schrieben indische Zeitungen am Freitag.

Die Regierung habe medizinische Experten nur gefragt, ob die 23-Jährige den sechsstündigen Flug überleben werde - nicht aber, ob die Verlegung medizinisch ratsam sei. Aus den Augen, aus dem Sinn?

„Sie nach Singapur zu verlegen, war klug - nach all den schlechten Entscheidungen hier“, sagt die politische Analystin Saba Naqvi. Sie bezieht sich dabei auf den Umgang mit den zahlreichen Protesten im ganzen Land, die erst tagelang von der Regierung nicht beachtet und schließlich mit Tränengasgranaten, Schlagstöcken und Wasserwerfern eingedämmt wurden. „Aus der politischen Klasse hat sich niemand mit Ruhm bekleckert“, sagt sie.

Es dauerte, bis die Regierung überhaupt reagierte. Erst eine Woche nach der Vergewaltigung in einem fahrenden Bus äußerte sich der Premierminister öffentlich. In einer kurzen Fernsehansprache bat er die Demonstranten um Ruhe. Am Ende fragte er: „Theek hai? (Alles gut?)“ Das war wohl an die Kameramänner gerichtet, die das Statement aufzeichneten. Doch die Frage wurde nicht abgeschnitten - und Tausende reagierten auf Twitter und Facebook: Nein, gar nichts ist gut. Nach dem Tod der jungen Frau sprach er der Familie nun zeitnah sein Beileid aus.

Die Demonstranten gingen in den vergangenen Tagen weiter auf die Straße und forderten von der Regierung wirkungsvolle Maßnahmen, damit Frauen in Indien endlich genauso viel gelten wie Männer. „Die Politiker hätten auf sie zugehen und sie in die Diskussion darüber mit einbinden sollen“, meinte der Psychologe und Soziologe Ashis Nandy. Aber stattdessen habe die politische Klasse sie als Störenfriede behandelt und bekämpft. „Das war sehr dumm, rücksichtslos und zeigt ihre totale Inkompetenz“, so der frühere Leiter des Zentrums für Studien sich entwickelnder Gesellschaften in Neu Delhi.

Nach einer Studie der Gesellschaft für Demokratische Reformen (ADR) sind in den vergangenen fünf Jahren 27 Männer bei Wahlen in Indien angetreten, obwohl gegen sie wegen Vergewaltigung ermittelt wird. 260 weitere gaben demnach zu, dass sie wegen Gewalt gegen Frauen angeklagt sind.

Ein Beispiel für die Entrücktheit der politischen Klasse lieferte auch der Sohn des Präsidenten. Diese hübschen Frauen, die jetzt mit Kerzen auf den Straßen protestierten, seien gar keine Studentinnen, sagte Abhijit Mukherjee einem lokalen Fernsehsender. Sie seien doch „ausgestopft und angemalt“ und suchten die Kameras. Er sei selbst einmal Student gewesen und wisse, dass Studentinnen einen ganz anderen Charakter hätten.

Dass es in seinem Land eine gesellschaftliche Bewegung gibt, die gegen die Machogesellschaft und die Geringschätzung der Frauen aufbegehrt, negiert auch Außenminister Salman Khurshid. Die Menschen seien jetzt nur wegen dieser Vergewaltigung wütend gewesen, sagte er. „Und ich hoffe, dass wir das nie wieder sehen müssen.“

Die Regierung verschließe die Augen, meint Experte Nandy. Weiträumige Absperrungen und ein enormes Polizeiaufgebot hielten die Menschen vom Regierungsviertel fern. Zahlreiche Metro-Stationen wurden einfach geschlossen, so dass nur wenige sich überhaupt nähern konnten. Kein Regierungsmitglied trat für eine Rede vor die Demonstranten. Dabei, meint die Analystin Naqvi, müsste die Regierung diese Bewegung doch als Chance begreifen. Die Gesellschaft ändere sich, die jungen Menschen lösten sich von traditionellen Vorstellungen: „Der Protest wird weitergehen.“

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