Report: Flucht aus Syrien - Acht Tage unter der Ladefläche

Neuss (dpa) - Sie sollten Soldaten der syrischen Armee werden. Aber andere töten, das hätten sie nicht gekonnt, sagen die beiden syrischen Brüder. Und so flohen sie. Wären sie auf ihrer Flucht noch in Syrien entdeckt worden, hätte man beide umgebracht.

Nicht erschossen, sondern qualvoller getötet, sind sie überzeugt. Aber sie wurden nicht entdeckt. Tagelang waren sie eingepfercht unter der Ladefläche eines Lasters - ein gefährliches Versteck. Am 5. Dezember landeten Mohammed und Ahmed (Namen geändert) schließlich im rheinischen Neuss.

Immer mehr Syrer kommen wegen des Bürgerkriegs als Flüchtlinge nach Deutschland. Im November wurden laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge knapp dreimal so viele Asylanträge von Syrern gestellt wie ein Jahr zuvor. Bis Ende November beantragten in diesem Jahr bereits rund 5600 Syrer Asyl in Deutschland.

„Mein Leben hat am 5. Dezember angefangen“, sagt Ahmed. Der Endzwanziger ist der ältere der beiden Brüder. Bielal Omayrat, Mitarbeiter der Neusser „Erstaufnahmeeinrichtung“, übersetzt aus dem Arabischen. Ahmed lächelt viel und gestikuliert. Sein jüngerer Bruder Mohammed schaut ernster. Er erklärt, dass sie nicht wegen Arbeit oder Geld hier seien. „Es geht um unser Wohl.“

In Syrien hätten Soldaten bei den Eltern vor der Tür gestanden und nach den beiden Brüdern gefragt. Sie sollten zur Armee eingezogen werden. Englischlehrer Ahmed und Tischlergehilfe Mohammed waren gerade bei der Arbeit und nicht zu Hause. „Packt eure Sachen, haut sofort ab“, habe der Vater ihnen nach dem Besuch der Soldaten gesagt.

Die Flucht hat vor allem Mohammed stark zugesetzt. Er habe sehr große Schmerzen, sagt er. Acht Tage kauerten die beiden in einer 30 Zentimeter hohen Lücke unter der Ladefläche eines Zwölfachsers. Ununterbrochen waren sie Nässe und Kälte ausgesetzt. Jetzt hat Mohammed Erfrierungen an seinen Füßen. Die Strecken seien lang, die Pausen nur sehr kurz gewesen, erzählen sie. Absteigen hätten sie kaum können, die Zeit sei zu kurz und ihre Körper von der Enge und der immer gleichen Position zu steif gewesen. Mohammeds Füße sind bandagiert, er sitzt im Rollstuhl.

Obwohl sie noch nicht lange in Deutschland sind, hoffen sie, dauerhaft bleiben zu können. Der Unterschied zwischen dem Lebensgefühl in Syrien und Deutschland sei so groß „wie vom Boden zum Himmel“, sagt Ahmed. Er hat auch schon Pläne: „Ich liebe die Vorstellung, Kindern in Deutschland Englisch beizubringen“, sagt er und strahlt. Sein Bruder könne sich vorstellen, zur Bundeswehr zu gehen. Vor allem aber hoffen sie, ihre Schwester und Ahmeds Frau bald wiederzusehen - in Deutschland. Die beiden wurden nach der Flucht der Brüder von Soldaten befragt. Auch sie sind geflohen, zunächst in die Türkei. Kontakt zu den Brüdern haben sie nicht.

Zu den Eltern in Syrien haben die Brüder zwar Kontakt, sind aber voller Sorge um sie. Die Mutter habe kürzlich einen Schlaganfall erlitten, der Vater sei geschwächt. Ahmed stockt in seiner Erzählung. „Ich wäre lieber gestorben als noch in Syrien“, sagt er. An den Frieden in ihrem Land glauben sie nicht, es sei denn, alle am Konflikt beteiligten Länder würden „die Hände rausnehmen“. Ahmed nennt die Türkei, Russland, Iran und die Hisbollah im Libanon. Aber auch dann sei für lange Zeit dort alles zerstört. „Es würde 200 Jahre dauern, bis alles wieder so ist wie früher“, glauben sie.

In Neuss bekamen die Brüder zunächst warme Kleidung. Ein Arzt untersuchte sie, Mitarbeiter der Einrichtung halfen bei Behördengängen. Der Tagesablauf ist geregelt, die beiden Brüder teilen sich ein Zimmer in dem ehemaligen Krankenhaus, das Mitte Oktober zur einer - wie es im Behördendeutsch heißt - Erstaufnahmeeinrichtung umfunktioniert wurde. Eines haben dort alle Flüchtlinge gemeinsam: „Sie haben einen weiten Weg hinter sich. Hier sollen alle erstmal zur Ruhe kommen“, sagt Einrichtungsleiter Jörg Thiel.

Wie geht es nun weiter für die beiden? Der Ablauf ist für alle Asylbewerber zumindest ähnlich: Nach den ersten paar Wochen oder Monaten in der Erstaufnahmeeinrichtung werden sie auf die Kommunen verteilt. Ein Asylverfahren kann wenige Wochen, aber auch mehrere Jahre dauern. Wo es für die beiden Brüder jetzt als nächstes hingeht und wie lange sie noch in Neuss bleiben, steht noch nicht fest.

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