Notfallseelsorge: „Jeder Mensch hat Begleitung verdient“

Notfallseelsorgerin Simone Henn-Pausch über den Umgang mit kirchenfernen Angehörigen, Hilfsangebote für Einsatzkräfte und ein Familienleben inmitten von Bereitschaftsdiensten.

Frau Henn-Pausch, beim Stichwort Notfallseelsorge denken viele vor allem an Dramen wie die Loveparade in Duisburg oder schwere Verkehrsunfälle. Was macht den Hauptanteil der Einsätze aus?

Simone Henn-Pausch: Für uns in Solingen ist die Betreuung von Angehörigen nach erfolgloser Reanimation nach wie vor der Standard, also der klassische plötzliche Todesfall im häuslichen Umfeld. Das macht sicher 80 Prozent der Einsätze aus.

Aber in Duisburg waren Sie auch vor Ort?

Henn-Pausch: Ich hatte die Feuerwehrleute aus Solingen immer zu den Loveparades begleitet, aber 2010 nicht. Da war ich zu Hause geblieben und hatte gesagt, wenn ihr etwas braucht, meldet euch. Die Solinger waren in Duisburg für den Tunnel vorgesehen und ich habe mich nachts nach ihrer Rückkehr mit ihnen zusammengesetzt. Das war also Notfallseelsorge für die Einsatzkräfte und nicht für betroffene Angehörige.

Welche Schutzmechanismen stehen Notfallseelsorgern in solchen Momenten zur Verfügung?

Henn-Pausch: Berufserfahrung, Professionalität, eine gute Seelsorge-Ausbildung und im Nachgang kollegiale Beratung.

Wie schafft man es, wenn man aus dem Alltag oder dem Schlaf herausgerissen wird, sofort präsent zu sein?

Henn-Pausch: Das macht das Adrenalin. Ich bin wach, weil ich Stress hat. Außerdem weiß ich, dass ich Bereitschaftsdienst habe, und bin deshalb innerlich schon darauf eingestellt. Und ich weiß, dass jede Situation anders ist.

Was können Notfallseelsorger falsch machen?

Henn-Pausch: Fast nichts. Für mich geht es darum zu zeigen: In allem Leiden, unter Schock, in jeder Krise gibt es Begleitung durch Notfallseelsorge. Für mich sind Notfallseelsorger Repräsentanten der Kirche, aber auch Gottes, der im Leiden mit dabei ist. Allein das Dasein ist positiv und ich habe in fast 14 Jahren keine wirklichen Klagen gehört, allenfalls mal einzelne Irritationen.

Dürfen Notfallseelsorger auch einfach schweigen?

Henn-Pausch: Es gibt nicht auf alles Antworten. Ich kann Eltern nicht erklären, warum ihr Kind stirbt. Ich kann die Situation nur mit aushalten, als Anwältin der Angehörigen auftreten und versuchen zu regeln, was noch gut tut. Ich selbst bin eine, die viel schweigt, guckt und hört, was für die anderen dran ist.

Gibt es Stoßzeiten für Notfallseelsorge?

Henn-Pausch: Erfahrungsgemäß sind die Sommerferien ruhiger, aber sonst ist es gleichbleibend. Wir haben hier in Solingen im Schnitt 1,5 Einsätze pro Woche und das gilt mit Ausnahme der Ferienzeit das ganze Jahr über.

Anders als in anderen Seelsorgegesprächen, wo in der Regel irgendeine christliche Verbindung besteht, treffen Sie bei Ihren Einsätzen auch auf ganz kirchenferne Menschen. Welche Rolle spielen Glaubensfragen in solchen Momenten?

Henn-Pausch: Kirchlich gebundene Menschen wünschen sich schon, dass man ein Gebet spricht und einen ritualisierten Abschied hinbekommt. Den Menschen ohne Kirchenbindung tut einfach die Erfahrung gut, dass jemand da war und sie begleitet hat. Und sie nehmen dabei auch wahr, dass Kirche das leistet und in ihrem Sinne handelt. Da findet keine Mission statt, ich ziehe kein Wiedereintrittsschreiben aus der Tasche, aber den Menschen begegnet Kirche in diesem Moment positiv und kirchliche Anliegen kommen ihnen nahe.

Sie haben gerade schon angedeutet, dass nicht nur Angehörige oft unter Schock stehen, sondern auch Einsatzkräfte das Erlebte verarbeiten müssen. Was leistet Notfallseelsorge für sie?

Henn-Pausch: Wenn Einsatzkräfte die Notfallseelsorge alarmieren, wissen sie, dass sie die Angehörigen jetzt gut alleine lassen können. Sie können mit einem beruhigten Gefühl wegfahren. Wenn sie selber schwierige Erlebnisse haben, stehen ihnen mit den Koordinatoren immer Ansprechpartner zur Verfügung, um das Erlebte zu erzählen und die negativen Auswirkungen zu lindern.

Wie hilft eine Notfallseelsorgerin sich selbst?

Henn-Pausch: Durch Gespräche mit Gott und das Abgeben von Belastungen an ihn. Dadurch, dass sie sich etwas Gutes tut wie einen Waldspaziergang oder eine heiße Dusche. Und durch Supervision.

Was tröstet Sie in Ihrer Arbeit?

Henn-Pausch: Vor allen Dingen das Gefühl, dass es in allem Leid sinnvoll war, dass ich da war und den Menschen eine Stütze sein konnte. Und mein Glaube, dass es einen gibt, der alles Leiden aufnimmt und ernst nimmt.

Wäre das auch die Antwort auf die Frage, was Sie immer wieder zu Ihrer Arbeit ermutigt?

Henn-Pausch: Meine Motivation ist vor allem, dass Menschen in so einer Schocksituation nicht allein sein sollen und müssen. In diesen existenziellen Momenten hat jeder Mensch Begleitung verdient, egal welcher Religion, Konfession oder Weltanschauung er sein mag.

Irritiert es, wenn es mal keine Resonanz auf die Hilfe gibt?

Henn-Pausch: Auch wenn die Angehörigen nichts sagen können, spüre ich ja, ob ich fehl am Platze war oder meine Anwesenheit dankbar angenommen wurde. Das gilt übrigens auch für den Zeitpunkt, an dem ich wieder gehe, in der Regel ja, wenn weitere Angehörige eintreffen und ein soziales Netz greift.

Gibt es auch freudige Erlebnisse in der Notfallseelsorge?

Henn-Pausch: Mich freut das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Und es gibt freudige Momente, wenn beispielsweise ein Kind angefahren wurde und man später die Nachricht erhält, dass das Kind lebt und die Verletzungen sich in Grenzen halten. Dann die Erleichterung der Eltern mitzubekommen, tut gut. Das gilt auch, wenn es gelingt, durch ein Gespräch einen Suizid zu verhindern. Und Freude spüre ich ganz oft, wenn ich im Kontakt mit den Einsatzkräften merke, dass sie zu schätzen wissen, was ich für sie und für andere tue. Aber himmelhoch jauchzende Augenblicke sind selten, dafür ist auch die Anspannung zu groß.

Früher wurden Pfarrer oft direkt zur Hilfe gerufen. Warum hat sich überhaupt die organisierte Notfallseelsorge entwickelt?

Henn-Pausch: Wir leben nicht mehr zu Zeiten, in denen der Pfarrer automatisch alles erfahren hat und erste Anlaufstelle war, sondern in einer säkularisierten Welt, in der selbst viele Gemeindemitglieder ihren Pfarrer nicht mehr kennen. Und der Dienstumfang von Pfarrerinnen und Pfarrern hat inzwischen ein solches Ausmaß angenommen, dass sie oft schlicht nicht mehr erreichbar sind. Wenn die Feuerwehr einen Pfarrer anruft, erreicht sie in der Regel den Anrufbeantworter, der aber keine Auskunft darüber gibt, wann der Pfarrer irgendwo erscheinen kann. Deswegen ermöglicht dieser Dienst, dass ein Pfarrer stellvertretend für alle präsent ist und auf jeden Fall kommt.

Die Organisation der Notfallseelsorge unterscheidet sich regional sehr. Im Nordkreis und in Leverkusen gibt es gerade Probleme, das Angebot aufrechtzuerhalten. Wie notwendig ist aus Ihrer Sicht Hauptamtlichkeit?

Henn-Pausch: Ich arbeite jetzt seit fast 14 Jahren fast ausnahmslos mit Pfarrerinnen und Pfarrern zusammen und weiß zu schätzen, dass sie ganz viel Erfahrung durch Beerdigungsgespräche und Seelsorge besitzen, und davon unterscheidet sich ja Notfallseelsorge kaum. Was Pfarrer da an Einfühlungsvermögen mitbringen, ist ein sehr hohes Gut. Dazu kommen das Seelsorgegeheimnis und das Zeugnisverweigerungsrecht, weil es punktuell immer wieder passiert, dass Menschen auch von ihrer Schuld berichten.

Ich sehe aber auch, dass alle Pfarrerinnen und Pfarrer bis an die Obergrenze belastet sind und wir die Notfallseelsorge perspektivisch so nicht aufrechterhalten können. Wir werden dafür auch Ehrenamtliche benötigen. Je nach Persönlichkeit sind sie dazu auch in der Lage, aber sie besitzen beispielsweise kein Zeugnisverweigungsrecht.

Sie haben Familie und einen achtjährigen Sohn. Wie organisieren Sie Ihre Arbeit während der Rufbereitschaften?

Henn-Pausch: Die Nächte sind fast nie ein Problem, weil dann meist mein Mann da ist. Tagsüber setze ich auf Schulfreunde. Mittlerweile ist unser Sohn so groß, dass wir ihn auch punktuell alleine lassen. Wenn beispielsweise absehbar ist, dass mein Mann in einer halben Stunde nach Hause kommt, kann ich schon mal fahren. Ich habe so viele Bereitschaftsdienste, dass ich nicht jedes Mal im Vorhinein abkläre, wer sich denn um Fabian kümmern könnte, wenn etwas passieren würde. Das Meiste muss spontan geregelt werden und da mute ich meinem Sohn und meinem Mann viel zu.

Notfälle machen auch vor Weihnachten nicht halt. Sind Sie auch dann in Rufbereitschaft?

Henn-Pausch: Der Dienstplan ist durch andere Kollegen noch nicht besetzt, sodass ich eigentlich in Bereitschaft sein müsste. Aber ich habe von meiner Verwaltung die Rote Karte bekommen, dass ich eigentlich meinen Resturlaub nehmen müsste. Ich werde mich also intensiv bemühen, die Tage noch anderweitig zu besetzen.

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