Die geprügelte Generation bricht ihr Schweigen

Rohrstock, Kochlöffel, Lederriemen: In den 50er und 60er Jahren war Gewalt in der Erziehung an der Tagesordnung. Die Folgen sind oft noch bis heute zu spüren.

Burscheid. Wie viele Lebenswege mögen bis heute davon geprägt sein: von den Schmerzen, der Demütigung, dem Vertrauensbruch?

Gewalt als Erziehungsmittel hinterlässt oft unsichtbare Spuren, wenn die Striemen und Blutergüsse längst abgeheilt sind.

Unsichtbar, weil die Geprügelten nur selten Worte finden, den seelischen Schaden zu beschreiben. Und weil Prügel lange als selbstverständlich galt.

Als ehemalige Heimkinder die Kölner Journalistin Ingrid Müller-Münch auf erlebte Repressalien aufmerksam machten, winkte sie daher auch ab — kurz bevor die öffentliche Diskussion um Missstände in deutschen Heimen der 50er und 60er Jahre losbrach.

„Das war meine größte journalistische Fehleinschätzung.“ Mit ihrem 2012 veröffentlichten Buch „Die geprügelte Generation“ hat Müller-Münch dann doch den verletzten Kindern von einst jenseits der Heime eine Stimme gegeben. Und immer wieder funktioniert es wie eine Art Dammbruch, der bei Lesern wie Hörern eigene Erlebnisse nach oben spült. Auch bei der Lesung am Donnerstagabend in der Stadtbücherei war das wieder zu beobachten.

Eine Dreiviertelstunde hatte Müller-Münch aus dem Buch zitiert, ihre Interviewpartner zu Wort kommen lassen, die alle bis auf den Schriftsteller Tilman Röhrig anonymisiert sind. Sie hatte Einblicke gewährt in die Welt der Rohrstock-Exzesse im Keller, der gezückten Ledergürtel und der vermeintlich „ordentlichen“ Tracht Prügel.

Und sie hatte Ursachenforschung betrieben für einen gesellschaftlichen Konsens, der Gewalt gegenüber Kindern unhinterfragt ließ. Müller-Münch sieht im Wesentlichen zwei Gründe dafür: zum einen die Schrecken der Nazi-Herrschaft und die durch Krieg und Terror größtenteils traumatisierten Eltern, zum anderen die eigenen Gewalterfahrungen der Elterngeneration, die unreflektiert und hilflos an die Kinder der 50er und 60er Jahre weitergegeben wurden.

Danach hatten die rund 25 Gäste der gemeinsamen Veranstaltung von Stadtbücherei und Kinderschutzbund das Wort. Und es dauerte nicht lange, bis die Schilderungen aus dem Buch fortgeschrieben wurden mit immer wieder neuen, bewegenden Beispielen.

Mit sechs Jahren habe sie eine Zeit in einem Kinderheim am Schliersee verbracht, erzählt eine Besucherin, die heute Ende 50 ist. Sie berichtet vom Zwang, Erbrochenes wieder aufessen zu müssen.

Sie schildert die Demütigung, als sie sich einnässt, die anderen Kinder deswegen eine Aktion abbrechen müssen und von den Betreuern aufgefordert werden, dafür die Sechsjährige zu bestrafen. „Und alle haben mich geschlagen.“

Ein Leben lang trägt sie diese Erfahrung mit sich herum, bis sie den Ort der Demütigung noch einmal aufsucht — und in dem damaligen Empfangsraum in Tränen ausbricht. Es ist vielleicht die gravierendste, aber längst nicht die einzige Erfahrung, die das Publikum beisteuern kann.

Dass mit dem Revoltenjahr 1968 die „übermächtigen Eltern vom Sockel gestoßen wurden und sich rechtfertigen mussten“, sieht die Buchautorin als Wendepunkt an. Aber dass Gewalt seither eben kein gesellschaftlicher Konsens ist, hat auch die nachfolgenden Generationen nicht vor elterlichen Schlägen bewahrt.

Zwar verschwand 1958 das Recht des Vaters auf ein „angemessenes Zuchtmittel“ aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB). Doch noch 1986 entschied der Bundesgerichtshof, dass Eltern weiterhin „eine Befugnis zur maßvollen körperlichen Züchtigung“ haben, in dem konkreten Fall mit einem 1,4 Zentimeter starken Wasserschlauch.

Erst im Jahr 2000 sorgte der Bundestag dafür, dass das Recht jedes Kindes auf gewaltfreie Erziehung im BGB verankert wurde. Aber die frühere Burscheider Kinderschutzbund-Vorsitzende Carmen Lienke-Blumberg weiß noch von heute 15- und 16-Jährigen zu berichten, die sagen: „Ohne Schläge kommen meine Eltern doch gar nicht mit mir klar.“

„Mir hat das doch nicht geschadet“, wer so heute noch auf erlittene Prügel zurückblickt, dem hält Müller-Münch gerne ein Zitat der früheren Hamburger Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit entgegen: „Sie wissen gar nicht, was für ein netter Mensch Sie geworden wären ohne diese Prügel.“

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