Die Suche nach der stillen Nacht

Ein Streifzug durch eine Stadt, die auch an ihren einsamsten Orten nicht schweigen kann.

Burscheid. Der Radweg glitzert. Burscheids neues Symbol der Ruhebedürftigkeit erhält durch den nächtlichen Regen etwas Feierliches. Erstaunlich, wie schnell sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnen, wenn die Beleuchtung der Ösinghausener Straße Schritt für Schritt in weitere Ferne rückt. Eigentlich ein idealer Ausgangspunkt für die Suche nach der stillen Nacht.

Aber der Weg führt geradewegs auf ein fortwährend zischendes Ungeheuer zu. Sein Rauschen bestimmt den Grundton der Nacht in der ganzen Stadt. Wer begreifen will, wie viel Gewalt wir Menschen mit unserem Mobilitätsbedürfnis der Welt antun, in der wir leben, sollte sich der Autobahn in der Dunkelheit annähern, wenn die Sinne nicht länger abgelenkt werden.

Wo der Radweg die A 1 überquert, kreuzen sich auch Ruhebedürfnis und lärmende Betriebsamkeit. Und beim Innehalten am Brückenrand erscheint die ganze Raserei auf einmal vollkommen absurd. Stille ist hier beim besten Willen nicht zu haben. Aber eine Art heiterer Gelassenheit: Hetzt ihr euch nur weiter ab, ihr Armen dort unten.

Tagsüber verwandeln 1800 Mitarbeiter diesen Ort in einen geschäftigen internationalen Ameisenhaufen. Jetzt verlieren sich noch gerade sechs Autos auf dem Parkplatz von Johnson Controls. Die beleuchteten Hinweisschilder für die Besucher ragen wie Lichtskulpturen empor, das orange Licht der Laternen nimmt der leeren Fläche etwas das Verlorene.

Ein Gebläse der Europazentrale wummert in die Nacht hinein, Foyer und ganze Büroetagen sind noch erleuchtet, obwohl nur ein einsamer Mitarbeiter am Empfang erkennbar ist. Von irgendwoher lacht eine helle Frauenstimme auf.

Ein paar Schritte weiter in einer Seitenstraße schlucken die Gebäude das Verkehrsrauschen der nahen Landstraße. Es wird stiller, aber auch befremdlich. Einem unbelebten Industriegebiet haftet etwas Tristes an. Kein Ort, um länger zu verweilen.

Mehr Wärme fürs Herz ist auf der ausgestorbenen Dorfstraße in Dierath zu finden. Freundlicher Lichtschein aus den Fenstern, Kerzen und meist dezente Beleuchtung vor den Türen. Am Ortsausgang führt ein von drei Straßenlaternen erhellter Feldweg in Richtung Handerfeld. Links und rechts der aufragenden Böschung erahnt man die Felder und erhascht ab und an ein paar Lichter aus der Ferne. Es wird friedlicher, auch innerlich. Für einen Moment dringt nur das Quietschen der eigenen Wanderschuhe ans Ohr.

Der Weg endet hinter den wenigen Häusern an einem bizarr aufragenden Strommast. Die Ebene öffnet sich wieder und die Geräusche von Ferne nehmen zu. Unvermittelt entsteht das Gefühl, ein Eindringling zu sein, der an diesem abgelegenen Ort um diese Zeit nichts mehr verloren hat. Ob hinter den Vorhängen schon das Misstrauen geweckt worden ist? Eiliger Abgang.

Ein letzter Versuch, sich als stiller Wanderer in der Stille einer der nächtlichen Ortschaften willkommen zu fühlen. Die K 2 führt am Trubel der Diskothek in Paffenlöh vorbei in Richtung Berringhausen. Dort parken noch mehr Autos als gewöhnlich am Feldweg bis hinunter zur Kreisstraße. Es geht auf Mitternacht zu, aber offenbar wird hier noch irgendwo gefeiert.

Das Feuer knistert zwar nicht bei den Hirten auf dem Felde, aber doch mitten im ökologischen Freio-Dorf. Die Gäste wärmen sich an den Flammen, Gesprächsfetzen und Musik bilden einen Klangteppich in der Dunkelheit. Das sieht behaglich aus, aber Stille ist in dieser Nacht auch hier nicht zu finden.

Also doch noch mitten hinein in den bergischen Wald. Vom Rosenkranz führt der Weg hinunter in Richtung Eschhausen. Vertraute Bäume ängstigen im Dunkeln wahrscheinlich weniger. Aber der Impuls, sich immer wieder umzudrehen, lässt sich nicht ganz unterdrücken. Also nicht länger gehen, sondern stehen bleiben, einfach die Augen schließen und horchen.

Es ist unglaublich: Auch hier, abseits aller Straßen, sagt das Verkehrsrauschen dem Rauschen der Äste und Zweige den Kampf an. Es ist ein ungleiches Kräftemessen, aber der wieder einsetzende Regen schlägt sich auf die Seite der Bäume.

Das Tröpfeln wird zum Trommeln und drängt die schnöden Automotoren in den Hintergrund. Und weil der Fantasie im nächtlichen Wald kaum Grenzen gesetzt sind, scheint es für einen Moment, als würden sich die Wipfel dort oben einander zuneigen und in ein mächtiges Getuschel ausbrechen.

Aber vielleicht melden sich da auch gerade nur die widersprüchlichen eigenen Gefühlslagen zu Wort, die durch die Dunkelheit hervorgerufen werden. Und bis diese lautlose Diskussion im Inneren nicht beendet ist, kann von einer stillen Nacht ohnehin nicht die Rede sein.

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