Totensonntag und ein Jahr der Trauer: Ich müsste mal wieder anrufen

Der Tod von Angehörigen wirkt oft länger nach, als man denkt. BV-Redakteur Ekkehard Rüger über ein Jahr der Trauer.

Burscheid. Wenn ich sonntags nach dem Gottesdienst ins Haus kam, habe ich fast immer von der Diele zum Anrufbeantworter geblickt. Meistens blinkte er. „Hier ist die Mutter. Ich wollte nur mal hören, wie es euch geht, und euch einen schönen Sonntag wünschen.“ Seit diesem Jahr blinkt der Anrufbeantworter nicht mehr. Im Februar ist meine Mutter gestorben.

Seither bin ich Vollwaise. Das darf man natürlich eigentlich nicht mehr sagen, mit 47 Jahren. Aber wenn die Elterngeneration komplett verschwindet, entsteht eine Gefühlslücke, die völlig unabhängig davon ist, wie eigenständig und erwachsen man sein Leben seit dem Verlassen des Elternhauses geführt hat. Journalistisch betrachtet würde ich sagen: Seit meine Mutter nicht mehr lebt, fehlt der Familie der Nachrichten-Umschlagplatz.

Ich habe schnell gemerkt, dass die öffentlich sichtbare Trauer um den Verlust eines 86 Jahre alten Menschen nicht allzu lange dauern sollte. In der Hierarchie des Mitgefühls rangieren andere Tode weiter oben: der eines Kindes natürlich, oder Fälle schlimmer Krankheiten und dramatischer Unfälle mitten im Leben. Aber ein Mensch wird ja nicht dadurch weniger wertvoll, dass er länger lebt. Und die eigene Trauer lässt sich nur ungern einreden, dass sie angesichts eines langen und womöglich auch erfüllten Lebens bitteschön doch gesellschaftsfähig bescheiden ausfallen möge.

Es ist Anfang Juni. Die Familie trifft sich in der Wohnung meiner Mutter, um zu verteilen, was uns am Herzen liegt. Meine frühere Frau verletzt sich am Finger, ich gehe ins Schlafzimmer, um ein Pflaster zu holen. Das aus Kindertagen vertraute Quietschen des Herrenschranks, die obere Schublade, darin die vergilbte, schäbige Plastikdose mit dem eingesogenen Geruch von Hansaplast.

Als ich den Deckel öffne, strömt mir ein Gefühlsschwall der Erinnerung entgegen — an die ungezählten Tränen, die an diesem Schrank getrocknet wurden, an den Trost und die erste Linderung des Schmerzes. Mag sein, dass die Plastikdose seither mein wertvollstes Erbstück ist.

Viereinhalb Monate später. Ein grauer, verregneter Tag im Oktober neigt sich der Dämmerung entgegen. Zu Hause hat es gekracht, ich muss raus hier. Man sollte das an so einem Tag und in dieser Stimmung wirklich nicht tun, aber ich setze mich ins Auto, fahre nach Mettmann und erreiche den Friedhof kurz vor der abendlichen Schließung.

Zehn Minuten starre ich im Regen auf das Grab meiner Eltern, dann zieht es mich noch einmal in die Wohnung. Seit sie leer geräumt wurde, habe ich sie nicht mehr betreten. Ich hocke mich in meinem früheren Zimmer auf den Boden, die Türen stehen offen, man blickt ins kahle Wohnzimmer, vorbei an den weinroten Wänden, mit denen ich als Jugendlicher meinem Zimmer den persönlichen Stempel aufdrücken wollte.

Jahrzehnte an Familiengeschichte haben sich in diesen Räumen abgespielt: Geburtstage, Weihnachtsfeste, rote Wangen vor Aufregung, wüste Streits und rührende Geborgenheit. Mit ein bisschen gutem Willen kann ich die Bilder noch wachrufen, die Geräusche hören und den Essensduft riechen. Aber alles verblasst schon. Die Erinnerung werde ich mir hoffentlich bewahren können. Aber sie wird künftig nicht mehr verortet sein. Mit der Wohnung ist auch ein Stück Lebensgeschichte ausgeräumt. Fast hundert Jahre war das Mehrfamilienhaus im Familienbesitz, jetzt soll es verkauft werden.

Am Sonntag werde ich seit Jahrzehnten mal wieder einen Gottesdienst in meiner Heimatstadt besuchen. Sie werden ihren Namen verlesen. Kann sein, sie zünden auch eine Kerze an. Wenn ich dann nach Hause komme, werde ich vermutlich aus Gewohnheit zum Anrufbeantworter blicken — und vielleicht für den Bruchteil einer Sekunde denken: Ich müsste mal wieder anrufen.

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