Der 93-Jährige, der aus dem Heim stieg und in die SPD eintrat

Wolfgang Paul, ein alter Freund von Joseph Beuys, wurde noch im hohen Alter Genosse.

Der 93-Jährige, der aus dem Heim stieg und in die SPD eintrat
Foto: Sergej Lepke

Düsseldorf. „Crimmitschau 1903-1928: Erinnerung an Sachsens bedeutendsten Arbeitskampf“: Das große rote Buch liegt auf dem Schreibtisch von Wolfgang Paul in seinem Zimmer im Altenheim Lörick. Paul ist 93 Jahre alt, er stammt aus der kleinen sächsischen Industriestadt — und jetzt, im hohen Alter, erinnert er sich wieder oft und intensiv an seine Kindheit zurück: „Vor allem an meinen Vater. Er war Fabrikarbeiter, ein strammer Sozialdemokrat und Ratsherr in Crimmitschau, das man ,Stadt mit 100 Schornsteinen’ nannte.“

Das rote Parteibuch des Vaters hat Wolfgang Paul jetzt bewogen, selbst noch in die SPD einzutreten. Ein bisschen hat dazu aber auch Uschi Klinzing beigetragen. Sie arbeitet in der SPD-Zentrale an der Kavalleriestraße und kennt Paul schon lange, denn sie ist die Witwe seines alten Freundes, des Kunstmalers Walter Klinzing. „Sie hat mich oft geneckt, wann ich denn nun endlich Genosse würde und dann bin ich tatsächlich mal hingegangen und habe nach einem sehr netten Gespräch mit Herrn Freitag (Günter Freitag, SPD-Geschäftsführer, Anm. d. Red.) die Aufnahme beantragt“, erzählt Wolfgang Paul.

Und so gehört er seit Oktober 2014 zum Ortsverein Heerdt-Lörick. Gewählt habe er die SPD ohnehin sein Leben lang, bis heute verfolge er Politik auf allen Ebenen, auch der lokalen. „Ein guter Mann, der irre viel rumsaust“, sagt er über den neuen OB Thomas Geisel.

Wenn man länger mit Wolfgang Paul spricht, wird schnell klar, dass er auch journalistisch viel mehr hergibt als den späten Parteieintreter. Zwei Zimmer bewohnt er im Haus Lörick, das zweite hat er vor allem wegen seiner vielen Bücher genommen. Viel Weltliteratur, Bücher über Philosophie, Religion, Musik füllen die Regale. Ins Auge springen aber auch Bilder und Fotos an der Wand, auf denen Joseph Beuys zu sehen ist, auf manche hat Beuys auch Widmungen für Paul geschrieben.

„Er war der Hauptkünstler in meiner Galerie, leider ist er schon 1986 gestorben.“ Gemeint ist die „Galerie Ilverich“, die Paul mit seiner Frau auf einem alten Schulgrundstück einrichtete und von 1970 bis 1997 führte. Dort wohnte die Familie auch mit den beiden Töchtern und dort fanden immer wieder Ausstellungen, aber auch jede Menge Feiern statt: „Beuys war so gerne in dem verwilderten Garten.“

Hauptberuflich wirkte Wolfgang Paul seit 1956 als Leiter der Pressestelle von Ex-Kaufhauskönig Helmut Horten. „Meinen ersten Text und ein Gedicht für Horten habe ich beim Richtfest für seine Villa am Leuchtenberger Kirchweg verfasst.“

Spannend verlief sein Leben schon lange vor der Düsseldorfer Zeit. Paul war seit 1940 im Krieg, erst vier Jahre auf einem Luftwaffenstützpunkt in Frankreich, dann noch an der Ostfront. Auf dem Rückzug vor der Roten Armee ist er in Pommern desertiert („Schreiben Sie das ruhig, darauf bin ich stolz“) und kam in russische Gefangenschaft, „wo ich gut behandelt worden bin“. Nach dem Krieg begann er ein Studium in Leipzig, doch die Ostzone war so gar nichts für ihn: „Schon wieder gab es eine Partei, die immer Recht hatte.“ Er ging in den Westen, nach Hamburg und studierte Literatur und Philosophie. Erstes Zeilengeld verdiente er beim „Hamburger Echo“, wo Herbert Wehner Redakteur war.

Und heute? Ist Wolfgang Paul noch hellwach und strahlt gute Laune aus. Dass es einem in diesem Alter körperlich alles andere als gut geht, will er nicht leugnen, „es gibt kein Gelenk mehr ohne Arthrose“. „80 plus“ heißt sein jüngster Text, der im April im Theater in Krefeld-Fischeln dramatisiert werden soll. „Das Alter ist eine sich grimmig fortsetzende, unaufhaltsame Anhäufung von Defekten“, hat er da reingeschrieben.“

Bevor er selbst grimmig wird, will er im Juni noch einmal samt Rollstuhl und Rollator in das Häuschen auf Formentera fliegen, in dem er in den 70ern Partys mit Wolf Biermann feierte.

Und dann möchte er unbedingt noch einmal nach Crimmitschau, „um dort bei der SPD das Buch meines Vaters über den Arbeitskampf abzugeben“.

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