Professor erfindet Lexikon für Popmusik

Stücke wie „Hung up“ von Madonna haben die Wertschätzung der Wissenschaft verdient, meint Fernand Hörner.

Professor erfindet Lexikon für Popmusik
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Düsseldorf. Manchmal ist das Verdrängen lebensnotwendig. Wer inmitten des Leids sitzt, beamt sich mit dem Kopf ins Paradies und bleibt solange dort, bis das Atmen wieder leichter fällt. Das Lied „Lili Marleen“ bot im Zweiten Weltkrieg eine solche Schönfärberei der elenden Wirklichkeit.

Es war im Jahr 1941 die perfekte Projektionsfläche für die Sehnsüchte der Männer an der Front, die ahnten, dass sie ihre Lieben zu Hause für lange Zeit nicht wiedersehen würden. Lale Andersen hat seinerzeit das Lied gesungen, das viel berühmter wurde als sie selbst.

Was es so populär machte, kann man im Songlexikon von Fernand Hörner und Christofer Jost nachlesen. Die Wissenschaftler haben das Online-Nachschlagewerk vor zwei Jahren eingerichtet. Jetzt, da sie mit dem US-Benefiz-Songprojekt „We are the world“ gerade die 100. Analyse ins Netz eingestellt haben, meinen sie, dass nun genug Stoff da ist, um mit dem Lexikon an die Öffentlichkeit zu gehen.

In Freiburg, wo Hörner, der an der Düsseldorfer Fachhochschule lehrt, vorübergehend und Jost noch immer arbeitet, entstand die Idee zu dem Songlexikon. Dahinter steckt die Überzeugung zweier Männer, ein Popsong sei allemal eine wissenschaftliche Betrachtung wert. Deswegen darf auch nicht jeder, der Punk von Jazz unterscheiden kann, für das Songlexikon schreiben. Die Autoren, die allein Hörner und sein Partner auswählen, sind Musik- oder Medienwissenschaftler, manchmal auch Historiker. Sie gehen der Besonderheit des jeweiligen Werks nach, seiner Entstehungsgeschichte, dem politischen oder künstlerischen Kontext, der Besetzung der Bands.

„Es gibt viele selbst ernannte Experten, die uns anschreiben“, sagt Hörner. „Die kennen sich gut aus, stellen aber keine Frage an den Song.“ Gerade dieser Aspekt jedoch markiere den Unterschied zwischen Wikipedia und dem Songlexikon. „Wir reihen keine lustigen Fakten aneinander, sondern wollen den Song in seiner Ganzheit wissenschaftlich erfassen.“

Das älteste Lied, das aufgenommen wurde, ist „Veronika, der Lenz ist da“ von den Comedian Harmonists vom Anfang der 1930er Jahre; zu den jüngeren gehören Madonnas „Hung up“ aus dem Jahr 2005 sowie „Survival“ von Muse, 2012 Olympia-Song in London. Eine dicke Lücke klafft beim Hip-Hop und bei der lateinamerikanischen Popmusik. Und auch die Erfolge deutscher Stadionfüller wie die Toten Hosen oder die Ärzte hat nach Hörner Kenntnisstand noch kein Wissenschaftler ergründet. „Dabei ist ,Hier kommt Alex’ doch ein Klassiker.“ Langfristig will sich Hörner an die Hosen noch heranarbeiten.

Grundsätzlich muss ein Song zwei Kriterien erfüllen, um aufgenommen zu werden: Er muss Gesang enthalten und als Tonaufnahme massenmedial wirksam sein. Ausnahme: Musik mit rechtspopulistischer Aussagekraft. Musikkompositorisches Mittelmaß ist wiederum kein Ausschlusskriterium. „,Smells like teen spirit’ von Nirvana ist erkennbar schief gesungen, und auch die Akkorde stimmen nicht“, sagt Hörner. „Dennoch ist der Song musikalisch präzise gespielt und sagt etwas über eine ganze Generation aus.“

Er selbst beschäftigt sich gerade mit der Kunstfigur „Helmut Fritz“, hinter der ein französischer DJ steckt, der einen nörgelnden Deutschen gibt. Den Songtext versteht der Halbfranzose Hörner problemlos. Überhaupt sind sehr gute Sprachkenntnisse notwendig, um zu begreifen, dass zum Beispiel der „blue bus“ im Doors-Hit „The End“ keine Flower-Power-Kutsche, sondern eine Kriegsmetapher ist.

Geld verdienen die Herausgeber mit ihrer Erfindung nicht. Und auch die Autoren erhalten nichts. „Es sind wissenschaftliche Veröffentlichungen“, sagt Hörner, „dafür gibt es kein Geld.“ Aktuell will er sich jedoch um Fördermittel bemühen, um aktiv Aufträge verteilen zu können. Angesichts des Aufwands gilt in seinen Augen jedoch vor allem eines: „Man muss Überzeugungstäter sein.“

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