Reportage: Auf Leben und Tod in der Notaufnahme

Georg Welty leitet die Ambulanz des Marien-Hospitals. Täglich muss sein Team hunderten Patienten helfen.

Düsseldorf. Es ist „Primetime“ in der Notaufnahme. So zumindest nennt Dr. Georg Welty die Zeit gegen 11 Uhr an diesem Montagvormittag. Welty ist der Leiter der Abteilung im Krankenhaus, in der es manchmal ums nackte Überleben geht. Jetzt stehen vier Krankenwagen auf dem Hof des Marien-Hospitals und warten darauf, zum überdachten Eingang der Notfallambulanz vorfahren zu können. Montage sind immer besonders heftig, es ist Stau.

Auch im Wartezimmer knubbeln sich jetzt die Patienten mit ihren großen und kleinen Wehwehchen. Ein Bauarbeiter stützt einen humpelnden Kollegen, schon von Weitem ist klar: Verletzung im Sprunggelenk — sicher nicht lebensbedrohlich. Wenn Georg Welty durch den Wartebereich läuft, zieht sein weißer Kittel die sehnsüchtigen Blicke der Menschen auf sich wie ein Magnet. Welty weiß noch nicht, was jedem dieser Patienten fehlt. Genau das ist die große Herausforderung der Notfallambulanz: Wer muss dringend behandelt werden? Wen kann man noch warten lassen?

Kranke sichten, Notfälle selektieren, rechtzeitig Leben retten und Schmerzen lindern — das ist der Idealfall in der Notaufnahme. Das Vorgehen nennt sich Triagierung, ein Begriff aus der Militärmedizin, der seinen Weg von den Schlachtfeldern in die Notaufnahmen gefunden hat. 1994 wurde das Manchester-Triage-System in Großbritannien entwickelt. Es teilt Patienten nach den Risikofaktoren Lebensgefahr, Schmerzen, Blutverlust, Bewusstsein, Temperatur und Krankheitsdauer ein und ordnet Wartezeiten in fünf Stufen von 0 bis 120 Minuten zu.

Diese Dringlichkeitseinschätzung umfasst mehr als 50 Diagramme. Zu viele, wie Welty findet. Der 42-Jährige hat das System überarbeitet und noch besser anwendbar gemacht: fünf Diagramme mit drei möglichen Stufen. Rot für „lebensbedrohlich“, Gelb für „dringend“ und Grün für „kann warten“. Jeder, der in die Ambulanz kommt, muss sich anmelden. Gerade reicht eine alte Frau der Empfangsdame ihre Krankenkassenkarte durch das Sprechloch. Ein, zwei Nachfragen später sagt die Arzthelferin: „Nehmen Sie bitte noch im Wartebereich Platz.“ In Weltys Wunschvorstellung geht hier die Triagierung schon los und zieht sich sogar bis zur entsprechenden Markierung von Schränken mit medizinischen Materialien. Noch arbeitet er an der Umsetzung.

Die Notfallambulanz ist mit drei Ärzten aus den Fachbereichen Innere Medizin, Chirurgie und Neurologie besetzt, dazu kommen zwei examinierte Pflegekräfte und eventuell Schüler oder Praktikanten. „Wir können auf der gesamten medizinischen Klaviatur spielen“, sagt Welty. Bedrohliche Notfälle seien natürlich vorrangig, aber ein Großteil der Patienten käme mit „Bagatelltraumata“. So nennt der Mediziner zum Beispiel Verletzungen von gestürzten Fahrradfahrern, die sich in Straßenbahngleisen verheddert haben oder Schnittverletzungen von Architekturstudenten, die an ihren Modellen basteln wollten. Hinter einem angeblich harmlosen Schwindelgefühl kann sich aber auch eine Hirnblutung oder ein Schlaganfall verbergen. „Gerade deswegen ist es so wichtig, immer wachsam zu sein“, sagt Welty.

Eine solche Bedrohung für den Patienten zu übersehen, ist die Horrorvorstellung eines jeden Mediziners. Dass die Triagierung ein Mechanismus ist, das zu vermeiden, macht Welty seinem Team täglich aufs Neue klar. „Es ist ein Schema, das einem Sicherheit gibt.“ Gerade in Notfällen, denn die sind nicht planbar und werfen einen aus dem Alltagstrott. „Wir sind hier ja nicht in der Toastbrotfabrik und machen Toastbrot mit Toastbrotmaschinen.“ Moderne Technik wie Computertomographie oder Ultraschall könne bei der Diagnose zwar helfen, aber den Arzt nie ersetzen.

Mittag. Die rote Alarmlampe im Flur der Ambulanz leuchtet auf. Das Telefon darunter schellt. Eine Voranmeldung. Ein Notarzt-Team kündigt der Ambulanz einen Schwerverletzten oder einen anderen Notfall an. Ärzte und Pfleger bereiten sich vor. Das ist das große Spiel. Wie auf einer Taktiktafel kleben auf dem Boden des Schockraumes Markierungen, damit jeder weiß, wo er zu stehen hat — vom Anästhesisten bis zur OP-Schwester.

Bei diesem Finale um Leben und Tod steht Welty aber nicht zwingend selbst mit „auf dem Platz“. Der ärztliche Leiter sieht sich auch in der Rolle des Trainers: „Jürgen Klopp spielt in Dortmund ja auch nicht mit, aber er trainiert sein Team jeden Tag.“ So hält es auch der gelernte Chirurg Welty: In Trainingseinheiten mit simulierten Fällen werden die lebensrettenden Handgriffe und das Zusammenspiel der Fachabteilungen einstudiert.

Jetzt wird der Chef an anderer Stelle gebraucht. Ärzte und Pflegerinnen sehen ihn ratlos an, sie wissen nicht mehr, wohin mit den Kranken: „Wir haben Abflussstau. Und kriegen eine Voranmeldung nach der anderen.“ Der Blick geht zurück. Auf dem Flur stehen schon drei belegte Betten, auf den regulären Krankenhausstationen ist kein Platz. In einem kleinen Büro in der hintersten Ecke der Ambulanz glühen die Drähte. Zwei Mitarbeiter versuchen, die Patienten unterzubringen — ohne Erfolg.

Der Chef muss ran. Notfallpatienten haben Priorität bei der Bettenzuteilung. Einige deutliche Worte später gibt Welty Rückmeldung ans Bettenmanagement: „Der Herr mit dem Hirninfarkt kann auf die 1 B. Die Anderen auf Station zunächst auf den Flur, bis die Entlassungen erfolgt sind.“

Um 13 Uhr hat das Ambulanz-Team sämtliche Staus vor und im Krankenhaus abgearbeitet. Ein erfolgreicher Vormittag für Welty? „Das kommt immer darauf an, wie viele Menschen wir dem Teufel von der Schippe geholt haben.“ Seine Bilanz von 10 bis 13 Uhr: 100 Patienten, von denen 20 stationär aufgenommen wurden. Ein ganz normaler Montag am Marien-Hospital.

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