Stadt-Teilchen Ich will mal wieder was auf die Ohren

Aus dem Walkman wurde der Riesen-Kopfhörer

Stadt-Teilchen: Ich will mal wieder was auf die Ohren
Foto: abi/dpa

Düsseldorf. Ja, ist denn schon wieder Winter? Dachte ich kurz, als ich morgens aus dem Fenster meines Lieblingscafés am Erftplätzchen blickte. Der Himmel war tristgrau, bedeckt, keine Verheißung auf einen schönen Tag deutete sich an. Aber Winter? Das Thermometer zeigte immerhin 17 Grad. Doch, es muss der Winter nahen, dachte ich erneut, denn ich sah Menschen mit Ohrenschützern. Riesigen Ohrenschützern. Ich wischte mir dann die verbliebenen Reste des spätabendlichen Sandmann-Aktivismus aus den Augenwinkeln und sah klarer.

Stadt-Teilchen: Ich will mal wieder was auf die Ohren
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Nein, diese Menschen trugen keine Ohrenschützer. Es waren junge Arbeitnehmer auf dem Weg zu ihrer Betriebsstätte im Hafen, und sie trugen Kopfhörer. Große Kopfhörer. Ich meine, richtig große Kopfhörer. Wären sie noch ein bisschen größer, dachte ich, könnte man sie auch als Minipizza verkaufen. Man macht das heute offensichtlich so, schloss ich und erinnerte mich an jene Zeiten, als ich auch so rumlief, meinen allerersten Walkman tief in der Jacke vergraben, und aus meinen im Vergleich zu heute eher mickrigen Kopfhörerexemplaren quakte etwas, das sich entfernt nach den Rolling Stones anhörte.

Ich ging damals an der Siegburger Straße zur Schule und musste von Bilk aus ein paar ordentliche Kilometer zurücklegen. Zu Fuß. Die Rolling Stones begleiteten mich dabei. Natürlich hätte ich auch mit der Bahn fahren können, ich hatte schließlich eine Schülerfahrkarte. Aber da hätte ich mehrfach umsteigen müssen und wäre vor allem viel zu vielen anderen Menschen begegnet. Lieber bin ich morgens allein durch die Unikliniken gestreift, dann rüber zum Stoffeler Friedhof und schließlich quer durch verwilderte Gärten bis zur Siegburger Straße. Und die Rolling Stones waren mit ihrer Liveplatte „Get Yer Ya-Ya’s Out!“ bei mir.

Sie waren nicht nur bei mir. Sie ernannten mich regelmäßig zu ihrem Mitglied. Ich weiß noch, wie mich Keith Richards auf der Chlodwigstraße ansprach. „Ey Alter“, sagte er. „Hast du Bock für mich einzuspringen?“ Natürlich hatte ich Bock. Ich meine, welcher Jugendliche hatte in den Siebzigern keinen Bock bei den Stones mitzuspielen?

Als ich das Gelände der Unikliniken betrat, hatte ich schon die Telecaster von Keith übernommen. Ich musste nicht lange überlegen, was zu spielen war. Ich hatte das tausendfach meiner Kassette entnommen. Ich trug seine Gitarre fast in Kniehöhe, weil das besonders lässig aussehen sollte, und als ich in Höhe der Zahnklinik war, zerschnitt ich die Luft des New Yorker Madison Square Garden mit den ersten Tönen von „Jumpin Jack Flash“. Ich nahm die Ovationen der Massen unten im Publikum gelassen hin, so als hätte ich jahrelang nichts anderes getan. Mann, ich war Mitglied der Stones. Da hatte man in den Siebzigern quasi ein Abo auf Coolness.

Ich hörte, wie neben mir jemand sang, dass er in einem schweren Sturm geboren sei, in einem Crossfire-Hurricane. Es war mein Freund Mick. Also, für alle, die sich bei den Stones nicht so auskennen wie ich als Mitglied: Michael Philip Jagger, heute besser bekannt als Sir Jagger. Der war damals noch schwer in Ordnung, mit dem hatte ich die Stones Anfang der Sechziger gegründet. Da war er noch nicht der hampelnde Wirtschaftsmann, der heute mit 72 Jahren unablässig so tut, als sei er 30, obwohl sein Gesicht inzwischen ein bisschen aussieht wie die Grachtenkarte von Amsterdam.

Als ich an der Christophstraße ankam, hatten wir gerade „Carol“ fertig, einen alten Chuck-Berry-Kracher. Mick spielte mit dem Publikum, ich lehnte mich lässig an meine Box und rauchte eine. Irgendwann, als ich in das unwegsame Gelände eintauchte, das heute den Südpark bildet, spulte ich zurück. Noch einmal „Jumpin Jack Flash“, noch einmal dieses unglaubliche Gitarrenriff. Ich erinnere mich, wie ich meine Telecaster noch ein wenig tiefer hängte, um noch lässiger auszusehen.

Und ich spulte noch mal zurück. Immer wieder zurück an den Anfang. Ich lauschte den begeisterten Fanmassen, vernahm den Ansager, der die „Greatest Rock’n’Roll Band in the World“ ankündigte. Und dann ich. „I was born in a crossfire hurricane“.

Irgendwann störte die Siegburger Straße meine New Yorker Kreise, und auf einmal übernahm wieder Keith die Gitarre im Madison Square Garden. Die Schule nahte. Mit Dingen, die mich einen Scheißdreck interessierten. Mann, ich war Mitglied der Rolling Stones. Aber das Leben in Düsseldorf kann so hart sein. Mathematik und Sozialkunde gegen Rock’n’Roll. Da gewann in jenen Tagen leider zu oft die Schule.

Daran denke ich, wenn ich heute die Menschen mit den Ohrhörern denke. Ich beneide sie ein bisschen, weil sie so eine tolle Ausstattung haben. Mit diesen riesigen Hörmuscheln können sie bestimmt noch besser abtauchen in ihre Traumwelt. Ich versuche, an ihren Bewegungen herauszufinden, was sie hören. Aber ich kann diese Sprache nicht mehr lesen. Ich kennen wahrscheinlich nicht mal mehr die Bands, in denen sie für kurze Zeit Mitglied werden. Ich denke nur, dass sich manche Dinge nie so wirklich ändern. Junge Leute träumen. Junge Menschen können sich in ihre ganz eigene Welt hineinfantasieren. Ich will das auch. Wo ist die nächste Pizzeria? Ich will auch mal wieder was auf die Ohren.

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