Buchvorstellung: 99 Morde im Kinderhaus

Sparkassen-Filialleiter Andreas Kinast stellte sein Buch über „Euthanasie“ im Dritten Reich an „nicht abrichtfähigen“ Kindern vor.

Krefeld. Anneliese B. aus Düsseldorf ist viereinhalb Jahre alt, als sie in Waldniel am 2. Juni 1943 stirbt. Als Todesursache trägt der behandelnde Arzt ein: „Doppelseitige Pneumonie bei Masern“. Die Lungenentzündung ist allerdings auf die Überdosierung eines für Kinder nicht geeigneten Barbiturats zurückzuführen. Anneliese B. wurde wie 98 andere Kinder auch in der „Kinderfachabteilung Waldniel“ umgebracht.

Andreas Kinast (45) ist Leiter der Sparkassen-Filiale Waldniel. Seit der Schulzeit interessiert er sich für Geschichte. Eine Zeitlang ist er von Krefeld aus zu seiner Arbeitsstelle gefahren und dabei an der Klinik in Waldniel-Hostert vorbeigekommen. Die ehemalige Außenstelle der Heil- und Pflegeanstalt Süchteln weckte sein Interesse. Literatur über sie fand er aber nur wenig.

In der Villa Merländer stellte Kinast jetzt sein Buch „Das Kind ist nicht abrichtfähig. Euthanasie in der Kinderfachabteilung Waldniel 1941-1943“ vor (sh-Verlag, 300 Seiten). Sieben Jahre hat er recherchiert, dabei auch die Todesbescheinigungen der Kinder in einem Keller des Süchtelner Haupthauses entdeckt.

Nach Waldniel wurden die Kinder von Ärzten überwiesen. Der NS-Staat betrieb die als Sterbehilfe geschönte Euthanasie systematisch. Insgesamt 100 000 behinderte Menschen wurden ermordet, darunter mindestens 5000 Kinder. In Waldniel gab es 200 Betten, etwa 400 Kinder wurden durchgeschleust. Unter den 99 Todesopfern waren auch sieben Krefelder. Getötet wurde mit Medikamenten und durch Mangelernährung.

Anneliese war ins Raster der NS-Ärzte geraten, weil sie „Mongolismus“ hatte (heute: Down-Syndrom). Andere Diagnosen, die einem Todesurteil gleichkamen: Missbildungen jeder Art, Lähmungen, „Idiotie“. Den menschenverachtenden Vermerk „nicht abrichtfähig“, der im Buchtitel steht, fand Kinast in einer Akte.

Kinast konnte einen Bruder von Anneliese ausfindig machen. Der hat ihm Fotos von Mutter und Schwester überlassen. Die Beiden lächeln in die Kamera. Auf die Rückseite eines Fotos hat die Mutter geschrieben: „Lasset mir der letzten schönen Tage noch freuen.“ Das war im April 1943.

Einen Prozess gegen die Verantwortlichen hat es bereits 1948 in Düsseldorf gegeben. Hermann Wesse, leitender Arzt in Waldniel von 1942 bis 1943, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt und hat davon über 20 Jahre abgesessen. Viele andere Mediziner, auch Vorgesetzte von Wesse, sind nie belangt worden.

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