Stunde Null in Krefeld Drei Kilometer kosteten ihn fünf Jahre

Heinz Esser erlebte das Chaos der letzten Kriegstage. Nach Krefeld kehrte er erst 1949 zurück — weil ihm etwas Glück fehlte.

Stunde Null in Krefeld: Drei Kilometer kosteten ihn fünf Jahre
Foto: Dirk Jochmann

Krefeld. Bis zur letzten Stunde blieb der Zweite Weltkrieg grausam und kostete täglich Tausende Menschen das Leben. Die Forschung geht davon aus, dass im letzten Kriegsjahr weltweit so viele Menschen umkamen, wie in allen Kriegsjahren zuvor zusammen. Vor 70 Jahren waren die Kämpfe in Krefeld zwar beendet, doch Hunderte Krefelder irrten als Soldaten oder Flüchtlinge durch die chaotischen letzten Tage des sogenannten Dritten Reichs. Einer von ihnen: Der damals 21-jährige Heinz Esser, dessen Schicksal exemplarisch für das vieler steht.

Lange hat der junge Marineoffizier Glück, dient erst auf dem Kreuzer „Prinz Eugen“, ist später dann auf dem Flakschiff „Meduse“ in Wilhelmshaven relativ sicher stationiert. Doch im Januar 1945 wird Esser zur Fortbildung auf die Ostsee-Insel Wollin nahe Stettin geschickt — direkt der nahenden Roten Armee entgegen. „Es war das reinste Chaos“, erinnert sich Esser. Obwohl in der Marine, erhalten er und seine Kameraden eine Infanterie-Ausbildung und graue Uniformen, um die Russen aufzuhalten. In einem Graben verschanzen sich die Deutschen, als der Feind naht. Beim Postverteilen trifft er einen bekannten aus Hüls, wenige Minuten später ist dieser tot — erschossen von einem Scharfschützen.

Essers Einheit kann sich absetzen. Mit 12 000 Marinesoldaten wird er per Zug nach Oranienburg, im Norden Berlins, gebracht. Dort erlebt er vor allem die Brutalität eigener Leute: An den Bäumen sind deutsche Soldaten aufgehängt. „Deserteur“ steht auf dem Schild, das ihnen die Henker umgehängt haben. Im Graben liegen abgemagerte Körper in Sträflingskleidung. „Die Insassen des KZ Sachsenhausen waren per Genickschuss ermordet worden, als ihre Bewacher flüchteten“, berichtet Esser von dem grausamen Anblick.

45 Mann hat er unter seinem Kommando. Um sie zu verpflegen, wird eine Drogerie geplündert. Einen Ortsgruppenleiter, der noch an den Endsieg glaubt und Esser wegen des Diebstahls zur Rede stellt, überzeugt erst die gezogene Pistole.

Wie ein Damoklesschwert schwebt der Tod in jenen letzten Tagen über allen. Ein 18-Jähriger desertiert, besinnt sich eines anderen und kommt zurück — dennoch wird er zum Tod verurteilt. Das Standgerichtsverfahren dauert nur wenige Minuten. Am Rande des Weges erschießt ein Unteroffizier Pferde, damit sie den Russen nicht in die Hände fallen.

Heinz Esser fasst einen Entschluss: „Wir müssen zur Elbe, da sind die Alliierten.“ Nachts marschiert er mit seinem Trupp durch die Wälder, tagsüber verstecken sie sich. Einmal treffen sie auf eine Einheit Luftwaffe-Soldaten, die aus Berlin geflüchtet sind und sich ebenso nach Westen durchschlagen wollen. Es herrscht ein heilloses Durcheinander: Hitlerjungen irren mit Panzerfäusten durch die Gegend. Immer wieder suchen Zivilisten Schutz bei den Soldaten. Doch die können sich selbst nicht mehr schützen. Die Front ist längst zusammengebrochen, russische Truppen haben die Flüchtenden an allen Seiten überholt. Fahrzeuge und Pferdegespanne mit Verwundeten blockieren die Straße — überall sterben Menschen. Die wenigsten wissen: Hitler ist längst tot.

„Laut Karte und Kompass waren wir noch drei Kilometer von der Elbe entfernt“, erinnert sich Esser an seinen für lange Zeit letzten Tag in Freiheit. Er versteckt sich in einer dichten Schonung, das rettende Westufer scheint zum Greifen nahe, doch ein Rotarmist spürt ihn auf. „Hitler kaputt. Bald wird es besser“, sind die ersten Worte, die er auf russisch hört. Doch zunächst geht es auf einen langen Marsch an die Oder, wo Esser und die anderen Überlebenden registriert werden sollen. Es sind Zehntausende, die durch die Ruinen des Hitlerreiches ziehen. „Am Wegesrand standen Menschen, die nach ihren vermissten Angehörigen suchten, indem sie den Namen riefen oder Schilder hochhielten.“ Bis heute kommen dem 91-Jährigen die Tränen, wenn er an die verzweifelten Gesichter der Frauen und Mädchen denkt.

Im Gefangenenlager erlebt Esser einen ersten Lichtblick: „Dort haben sich schnell die entsprechenden Landsmannschaften gefunden — so auch wir Krefelder“, berichtet er. Da sind ein alter Hauptmann, den ganz Krefeld kennt, weil man bei ihm Käseplatten bestellen konnte und einige andere Niederrheiner. „Einer hatte ein Auge verloren, der sollte bald nach Hause“, sagt Esser. Die Gruppe nutzt die Chance: Mit Bleistift werden dem Heimkehrer Telefonnummern auf die helle Innenseite der Augenklappe geschrieben. „Er hat dann auch tatsächlich bei meinem Vater angerufen, um ihm zu sagen, dass ich überlebt hatte und nun in russischer Gefangenschaft war.“

Doch die Hoffnung auf eine schnelle Heimkehr nach Krefeld zerfällt, als der Zug, in den er Wochen später geladen wird, nach Osten rollt. Zuerst nach Estland, wo er und andere Offiziere zum Torfstechen eingesetzt werden. Dass dort ein Krefelder in der Küche arbeitet, ist für den jungen Esser von Vorteil. Erstmals kann er nun auch Karten in die Heimat schreiben und erhält zwei Monate später die erhoffte Antwort: „Wir sind ausgebombt, aber leben alle“, schreibt der Vater. Es folgen Dutzende Karten, die die Mutter alle aufhebt.

Am Ende sind es 14 Lager in fünf Jahren, durch die Esser muss. Im letzten gehört er einer Theatergruppe an, mit der er an Goethes 200. Geburtstag am 28. August 1949 den „Faust“ aufführt — als Mephisto. Da weiß Esser noch nicht, dass es seine Abschiedsrolle ist. Am 9. November des gleichen Jahres tritt er die Heimreise an. „Ich wollte meine Familie aber nicht beunruhigen, sondern erst anrufen, wenn ich in Krefeld am Bahnhof bin“, erzählt Esser. Er trifft allerdings zum denkbar ungünstigsten Moment ein: Sonntagmorgen um sechs Uhr steigt er aus dem Zug und wird auf eine letzte Geduldsprobe gestellt. Eine Stunde später informiert er die Familie per Telefon, die ihn vom Bahnhof abholt.

Für Heinz Esser beginnt jetzt das persönliche Wirtschaftswunder. Wenige Wochen später hat er eine Stelle in der Textilwirtschaft. Ein neues Leben beginnt — aber die Erinnerung an die letzten Kriegstage ist bis heute so eindringlich, als wäre es gestern gewesen.

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