Ertrunken im Rhein - Das Leben im Sommer danach

Nivethen Arunthavarajah ertrank vor einem Jahr im Rhein. Seine Familie kämpft gegen die Trauer.

Krefeld. Das Video zeigt eine Gruppe von Jungs. Sie stehen bis zu den Knien im Wasser, hüpfen, toben, spritzen sich gegenseitig nass. Es ist Sommer, ein heißer Tag am Uerdinger Rheinufer, und die Jugendlichen genießen ihre Freiheit. Für einige ist die Schulzeit zu Ende, manche haben eine Lehrstelle in Aussicht. Sie haben das Leben vor sich.

Was wenig später passiert — die Kamera ist inzwischen ausgeschaltet —, bestimmt bis heute das Leben der tamilischen Familie Arunthavarajah. Obwohl die Jungs nur mit den Beinen im Wasser stehen und sich an den Händen halten, reißt die Strömung eines vorbeifahrenden Schiffes zwei von ihnen mit. Die Polizei findet ihre Leichen zwei Tage später in Duisburg. Einer der Toten ist der 19-jährige Nivethen Arunthavarajah.

In der Wohnung seiner Familie erinnert eine Art Altar an den verlorenen Sohn und Bruder. Große Fotos stehen darauf, Blumen und Kerzen, bunte Ketten hängen an der Wand. Die Lampe auf dem Tisch brennt jede Nacht.

Auf den Bildern wirkt Nivethen ernst und selbstsicher, ein schlanker, dunkelhäutiger Junge mit intelligenten Augen. Der 18-jährige Kumpel, der am 10. Juli 2010 mit ihm ertrank, war ein Sandkastenfreund. Schon als Babys hatten beide zusammen gespielt.

Nivethens Familie hat den Kontakt mit der WZ gesucht. Sie möchten über ihre Trauer reden und über die Rituale, die im Hinduismus auf den Tod eines geliebten Menschen folgen. Und sie möchten warnen — rechtzeitig zum Sommer.

„Viele sollen das lesen“, sagt Nivethens Schwester Nivahini. „Mein Bruder war Nichtschwimmer, aber die Feuerwehrleute haben gesagt: Bei so einer Strömung hat auch ein geübter Schwimmer keine Chance.“

Auf dem Video ist zu sehen, wie Nivethen sich abseits von der Gruppe hält, näher am Ufer als die anderen. „Er merkt, dass es gefährlich ist“, sagt Nivahini. Erwischt hat ihn die Strömung trotzdem. „Wir wissen bis heute nicht ganz genau, was passiert ist.“

Als der 19-Jährige an diesem Sommerabend buchstäblich aus dem Leben gerissen wird, bleibt seine Familie fassungslos zurück. Der Vater gibt seinen Job auf, die Familie wechselt die Wohnung — Trauer stellt mit Menschen furchtbare Dinge an, sie ist irrational und grausam.

Im Hinduismus bleibt jedoch als Trost eine Reihe von Ritualen, die in fester Reihenfolge zelebriert werden. Diese Zeremonien sind seltsam ambivalent:

Sie helfen beim Umgang mit dem Tod und stehen zugleich der eigenen Trauer im Weg. „Es ist schlimm, dass man all diese Feiern mit so viel Traurigkeit in sich machen muss“, sagt Nivahini Arunthavarajah. „Aber es ist das einzige, was wir für meinen Bruder noch tun können.“

Die Rituale dienen dem Zweck, die Seele des Verstorbenen zu reinigen. „Sie soll nicht herumgeistern, sondern wiedergeboren werden“, erzählen die Eltern Arun Kulendran und Rohini Arun. Für einen jungen Menschen ist das besonders wichtig: „Er hat noch so viel vorgehabt. So viele Pläne, so viele Wünsche.“

Wasser spielt bei den Ritualen eine wichtige Rolle. Nach der Beerdigung in Fischeln mit 1000 Trauergästen wurde Nivethens Asche vor Den Haag ins Meer gestreut, vor einigen Tagen hat die Familie am Rhein bei Uerdingen eine Todeszeremonie abgehalten. „Wasser hat überall eine Verbindung, also auch zu den heiligen Flüssen Ganga, Yamuna und Kaveri.“

Durch die Reinigung kann Nivethen wiedergeboren werden. „Es kann auch sein, dass das schon passiert ist“, sagt Nivahini. Der jüngste Bruder ihres Vaters hat vor sechs Monaten eine kleine Tochter bekommen. Sie hat die gleiche helle Haut wie Nivethen.

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