Inklusion: Der Countdown für ein neues System Schule

Gesetzlich ist das gemeinsame Lernen behinderter Schüler mit nicht behinderten noch ungeregelt — Krefeld sieht sich in einer Vorreiterrolle und geht mit den Schulen eigene Wege.

Alle Kinder lernen mit- und voneinander, schulformübergreifend sind Schüler mit erhöhtem Förderungsbedarf Teil der Klassen — das ist das Prinzip der Inklusion.

Was seit dem Jahr 2009 geltendes Gesetz in Deutschland ist, nimmt auch auf Landesebene mittlerweile Formen an: Gutachten sind erstellt, Absichtserklärungen formuliert worden. Zuletzt im September legte die rot-grüne Landesregierung einen neuen Gesetzesentwurf vor. Das Ziel: einen verlässlichen Rahmen zu schaffen, mit dem die Schullandschaft behutsam, aber konsequent umgebaut werden kann.

In Krefeld machen sich bereits jetzt viele Personen Gedanken, wie ein so genanntes inklusives Konzept aussehen könnte. Im Schulentwicklungsplan der Stadt haben Oberbürgermeister Gregor Kathstede und die zuständigen Fachbereiche auch ohne Gesetzesgrundlage festgelegt, dass Schulen, Lehrern, Eltern und Verbänden dabei Mitwirkungsmöglichkeiten gegeben werden. Mit der Franz-Stollwerk-Schule (Primarbereich) sowie der Förderschule am Uerdinger Rundweg und der Erich-Kästner-Schule (beide Sekundarstufe I) sind daraufhin drei „Kompetenzzentren“ entstanden, so dass Krefeld seit 2010 sogar als eine vom Land genehmigte „Pilotregion für sonderpädagogische Förderung im Bereich der Lern- und Entwicklungsstörungen“ (LES) in NRW gilt.

Den Überblick über diese Entwicklungen hat in Krefeld Jürgen Maas. Der Leiter des Fachbreichs Schulen und seine Mitarbeiter sind damit beschäftigt, für alle Beteiligten in der Stadt möglichst zügig optimale Lösungen zu planen und umzusetzen.

„Wir können es uns nicht leisten, mit der Umsetzung des inklusiven Gedankens zu warten, obwohl ich mir natürlich Planungssicherheit durch eine rechtliche Grundlage wünsche“, sagt Maas. Bislang greift sein Fachbereich auf die „alten“ Regeln zurück, zum Beispiel das Verfahren, mit dem der Grad des Förderungsbedarfs eines Kindes ermittelt wird. Maas blickt dennoch zuversichtlich in die Zukunft. Insbesondere den Krefelder Schulleitern zollt er Respekt dafür, wie engagiert sie im Rahmen des Modellprojekts „Sebständige Schule“ mit Start des Schuljahrs inklusive Klassen eingerichtet haben. In Krefeld sind dabei die Hauptschulen Vorreiter, aber auch Gesamt- und Realschulen sowie das erste Gymnasium haben nun nachgezogen.

Jürgen Maas, Fachbereich Schulen

Die Abstimmung der Schulen untereinander funktioniert, man zieht an einem Strang und unterstützt sich durch den Austausch von Erfahrungen. Das bestätigt auch die Leiterin der Südschule in Fischeln, Sarah Gringel: „Auch wenn das früher anders genannt wurde, wir arbeiten seit 16 Jahren inklusiv und jahrgangsübergreifend, von der ersten bis zur vierten Klasse.“ Die Eltern seien vorab umfassend über Pläne informiert und um ihre Meinung gebeten worden — mit sehr positivem Feedback.

„Wir alle könnten uns zurücklehnen, auf Düsseldorf zeigen und auf das Gesetz warten. Allerdings haben wir es hier nicht mit Papier, sondern mit Menschen zu tun“, bringt Jürgen Maas das gemeinsame Engagement von Schulen und Verwaltung auf den Punkt. Und auch die in Krefeld für das Schulamt zuständige Abteilungsleiterin Renate Peters, betont die Bedeutung einer gelungenen Umsetzung des Inklusionsgedankens: „Hier geht es nicht um eine Verbesserung einzelner Schieflagen in der Schulausbildung, bei der Inklusion geht es um eine grundsätzliche Umgestaltung unseres Gesellschaftssystems.“

Um dieses hehre Ziel zu erreichen, müssen jedoch einige offene Fragen geklärt werden: Etwa wie oft und nach welchen Kriterien Eltern entscheiden dürfen, ob ihr Kind eine Regel- oder doch besser eine spezielle Förderschule besucht. Oder wie hoch der Anteil pro Schulklasse und wie schwer der Grad einer Behinderung von Schülern mit erhöhtem Förderungsbedarf sein darf, damit auch alle Beteiligten von der neuen Gemeinsamkeit profitieren können.

Die Verteilung der Kosten für zusätzliche Sonderpädagogen und Pflegekräfte (Grundlage für die Berechnung ist eine zusätzliche Fachkraft pro Klassenverband), für die Bereitstellung von Rückzugsräumen für die Förderschüler sowie für angepasstes Unterrichtsmaterial sind Posten, über die sich Jürgen Maas und Renate Peters viele Gedanken machen. Sie fordern dafür einen „angemessenen Beitrag der Landesregierung“. Denn alle Initiativen, die derzeit an den Krefelder Schulen stattfinden, würden durch Umschichtungen innerhalb des Budgets gestemmt.

Auch organisatorisch entwickeln die Krefelder Schulen in Abstimmung mit dem Träger und der Schulaufsicht eigene Rezepte: Das Verteilen der förderbedürftigen Kinder auf so genannte zielgleiche und zieldifferente Gruppen gehört dazu: sprachlich, körperlich sowie seh- und hörbehinderten Schülern werden Lerngeschwindigkeiten zugeteilt, die sich bei passender Unterstützung nicht stark von denen nicht behinderter Schüler unterscheiden. Die zweite Gruppe besteht vornehmlich aus Schülern mit geistiger Behinderung. In der Praxis teilen sich diese Gruppen derzeit auf in die Bereiche Gemeinsamer Unterricht (GU, zielgleich) sowie die integrativen Gruppen (zieldifferent). „Als pädagogischer Leitsatz gilt: schwache Schüler profitieren, starke Schüler leiden nicht“, erklärt Renate Peters.

Umgesetzt wird die Inklusion bislang an 17 Krefelder Schulen, die GU-Klassen eingerichtet haben — 13 davon sind Grundschulen. An vier Hauptschulen gibt es intergrative Lerngruppen mit je sechs förderbedürftigen Schülern pro Klasse, verteilt auf alle Jahrgangsstufen.

Insgesamt werden an Krefelder Schulen derzeit 432 besonders förderbedürftige Schülern an den drei Kompetenzzentren für LES unterrichtet sowie 427 Schülern an den Regelschulen — 234 in der Primarstufe, 193 in der Sekundarstufestufe I.

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