Reportage: Im Uerdinger Kreißsaal geht das Licht aus

Nach 130 Jahren ist der kleine Giulio das letzte Baby, das im St. Josefshospital geboren wurde. Still und leise geht eine Ära zu Ende — mit gespenstisch leeren Fluren und todtraurigen Hebammen.

Krefeld-Uerdingen. Manchmal geht eine Ära still und leise zu Ende, ohne großen Knall. Selbst die Protagonisten merken es dann kaum, weil sie ganz andere Dinge im Kopf haben oder weil sie wie immer ihre Arbeit erledigen. Am wenigsten ahnt der kleine Giulio, was da gerade passiert. Er ist erst seit sechs Tagen auf der Welt, und welcher Film in seinem Kopf abläuft, das liegt jenseits unserer kühnsten Träume.

Giulio Trieste, geboren am 24. März 2012 um 20.40 Uhr, ist der letzte Uerdinger. Mit ihm endet im St. Josefshospital eine 130-jährige Tradition. Morgen um Mitternacht schließt der Kreißsaal für immer seine Türen. Das Inventar wandert laut Geschäftsführung als Spende in Entwicklungsländer, für die Räume gibt es derzeit keine Verwendung. Sie werden leer stehen.

Schon jetzt fühlen sie sich irgendwie leblos an, trotz der niedlichen Babyfotos an der Wand. „Es ist gespenstisch“, sagt Manuela Cymek, eine der Hebammen, die im Dezember pünktlich zum Weihnachtsfest ihre Kündigung bekamen. Seit 1994 arbeitet sie in Uerdingen, viele ihrer Kolleginnen sind noch länger hier.

Um zu verstehen, was Cymek meint, muss man den Kosmos Geburtshilfe kennen. Bevor man ihn betreten darf, klingelt man an der Eingangstür. Dahinter ist es Normalität, dass werdende Mütter vor Schmerzen schreien und Neugeborene ihre Stimme ausprobieren. Es ist ein Ort für Wunder, aber auch einer, an dem hart gearbeitet wird. Eine Geburt ist selten romantisch, eher laut, lang und blutig. Hebammen sind dabei mehr als medizinisches Fachpersonal, sie sind die wichtigsten Verbündeten der Frau.

Nun ist Cymek allein, nur gelegentlich klingelt das Telefon. Sie ist gehalten, werdende Mütter in andere Kliniken zu schicken, weil ab 1. April, null Uhr, kein Versicherungsschutz mehr besteht. Für Cymek muss sich das so anfühlen, als solle ein Priester vor dem Gottesdienst die Kirchentür verrammeln: „Was soll ich denn machen, wenn hier eine Frau mit Blutungen auf der Matte steht?“, sagt sie fast trotzig.

Doch es wird niemand mehr kommen. Im ganzen März gab es in Uerdingen nur noch 17 Geburten, normal sind etwa 50. Für die Betriebswirtschaftler im Haus war die 50 eine schlechte Zahl, für die Hebammen und Familien eine gute. Sie bedeutete, dass für jede einzelne Geburt genügend Zeit blieb. „Die großen Kliniken sind Fabriken“, sagt Cymek. „Ich möchte es nicht erleben, dass ich mittags nicht mehr weiß, wie die Patientin hieß, die ich am Morgen betreut habe.“

Manuela Cymek weiß noch nicht, wie es mit ihr weitergeht. Bis Juni bekommt sie Lohn, für danach hat sie bislang keine Idee. Die meisten ihrer sieben Kolleginnen wechseln in Praxen, bieten Vor- und Nachsorge an. Nur eine hat eine Stelle im Kreißsaal gefunden. „Es wird mir fehlen, Kinder zur Welt zu bringen“, sagt Cymek. „Das macht den Beruf aus.“

Kaum jemand weiß das besser als Rosemarie Temming. Sie war mehr als 40 Jahre lang leitende Hebamme in Uerdingen und hat nach eigener Zählung 5180 Kindern ins Leben geholfen. „Davon 55 Mal Zwillinge“, sagt sie stolz. Wer diese Zahlen hört, kann sich denken, dass Temming halb Uerdingen beim Vornamen kennt. „Ich werde überall auf die Schließung angesprochen“, erzählt sie. „Die Leute haben teilweise Tränen in den Augen.“

Dass es im Stadtteil dennoch keine Unterschriftenaktionen oder Protestmärsche gab, das können sich die Hebammen nicht recht erklären. „Vielleicht schien die Entscheidung zu unumstößlich“, sagt Manuela Cymek. „Wir hatten ja direkt die Kündigung, alles war Fakt.“ Auch für den Rückgang der Geburtenzahlen sehen sie nicht die eine, einfache Erklärung: Es sei zu wenig in die Abteilung investiert worden, vermuten sie, während Helios massiv umbaute und wohl auch großzügig Werbegeschenke an werdende Eltern verteilte. „Eigentlich ist es fast egal“, sagt Cymek. „Wir sind mit dem Thema durch.“

Die Hebammen in Uerdingen werden nicht die letzten sein, die ihren Kreißsaal für immer hinter sich abschließen müssen. Die Konzentration der Geburtshilfe auf Großkliniken ist ein bundesweiter Trend: In Krankenhäusern mit weniger als 500 Betten sank die Zahl der Entbindungen seit 1994 laut Statistischem Bundesamt um mehr als 35 Prozent. In den Kliniken ab 500 Betten stieg sie um zwölf Prozent — obwohl in Deutschland insgesamt deutlich weniger Babys geboren wurden. Die Zahl der Kaiserschnitte nahm in dieser Zeit um 60 Prozent zu.

Der Mediziner Jens R. Brinke hat den Niedergang der kleinen Häuser schon 2004 aus der Nähe gesehen. Damals war er Chefarzt der Geburtshilfe in Kevelaer, als diese schließen musste. Heute hilft der Rentner in Uerdingen aus — und erlebt ein Dejà-vu, das ihn nicht sonderlich überrascht. „Es ist der Lauf der Dinge“, sagt Brinke. „Was dabei verloren geht, ist die persönliche Zuwendung. Aber der Verlust wird hingenommen, weil Zuwendung Geld kostet.“

Der Arzt hat diese Zuwendung auch in der eigenen Familie erfahren: Einer seiner Enkel ist in Uerdingen zur Welt gekommen, so wie die Cymeks Zwillinge und der Sohn der Ärztin Linda Fastovskyy, die nun dem kleinen Giulio auf die Welt geholfen hat. Nur der erste Enkel von Rosemarie Temming wird zu spät dran sein, der Termin ist erst im Sommer: „Das erste, was meine Tochter gefragt hat, war: Wo soll ich denn jetzt zur Geburt hingehen?“

Auch Giulios Eltern Rosanna und Giovanni Trieste verbindet eine Geschichte mit dem Uerdinger Krankenhaus. Ihr Sohn Luca kam vor rund dreieinhalb Jahren dort zur Welt, die Tochter Valentina vor 20 Monaten. „Ich kenne fast alle Hebammen hier“, sagt die junge Mutter. „Und ich weiß, wie traurig sie sind, auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen. Das ist kein Arbeitsplatz, den sie verlassen — es ist eine Familie.“

Vermutlich wirkt es auch deshalb so still im Kreißsaal. Nur das gelbe Baby-Maßband, an dem die Tage bis zum 31. März Zentimeter für Zentimeter abgeschnitten wurden, verrät etwas über die Bitterkeit in den Köpfen. Daneben hängt die Einladung zur Abschiedsparty. Sie beginnt mit der letzten Schicht im Kreißsaal. „Wir können die Kollegin doch nicht allein lassen“, sagt Manuela Cymek. „Wir wollen hier gemeinsam das Licht ausmachen.“

Trauermarsch am Samstag, 11 Uhr. Treffpunkt ist der alte Marktplatz.

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