Interview mit Zukunftsforscher: Sind wir denn noch zu retten?

Der Ratinger Zukunftsforscher Ulrich Scharfenorth fordert ein radikales Umdenken.

Kreis Mettmann. Der Ratinger Zukunftsforscher Ulrich Scharfenorth fordert ein radikales Umdenken.

Herr Scharfenorth, sind Sie ein Schwarzseher?

Scharfenorth: Nein, ganz und gar nicht! Ich versuche die Dinge so zu sehen, wie sie vermutlich sind oder werden. Wenn ich immer mal davor warne, die menschliche Gesellschaft an die Wand zu fahren, mag das reißerisch klingen. Leider sprechen aber viele Fakten dafür, dass unsere Welt heute mehr denn je bedroht ist.

Trotzdem: Wer Ihr Buch liest, fragt sich schon, ob er in 50 Jahren noch auf dieser Welt leben will.

Scharfenorth: Die Frage ist doch, ob wir künftig so weiter wirtschaften wollen wie heute oder ob wir bereit sind, unsere Denk- und Handlungsweisen zu ändern. Wenn uns Spekulation, Ressourcenverschwendung und Raubbau an der Natur weiterhin begleiten, dürfte es wenig Freude machen, in der verbleibenden Rest-Welt zu leben.

Was müsste Ihrer Meinung nach getan werden?

Scharfenorth: Wir müssen die Herrschenden dazu zwingen, eine nachhaltige Welt anzusteuern — oder diese Leute aus dem Tempel jagen. Unser Leben muss entschleunigt, sprich wieder menschlicher werden. Der Gier, der Spekulation und dem ungezügelten Freihandel zwischen ungleich Starken müssen Riegel vorgeschoben werden. Wir brauchen eine Reform der internationalen Finanzarchitektur und ein am Gemeinwohl orientiertes Wirtschaften.

Kommen wir auf Ihr Buch „Störfall Zukunft“ zu sprechen. Warum dieses Thema?

Scharfenorth: Ich komme aus der Ex-DDR und war auch dort ein politischer Mensch. Und ich habe mich immer schon für die Zukunft interessiert. Mit der Wende und dem abrupten Übergang in eine neue Gesellschaft tat sich unendlich viel Stoff auf. Ich traf auf eine Unzahl von Fakten, Fragen und Misshelligkeiten, die meinem Empfinden nach gedeutet, beantwortet und fortgeschrieben werden wollten.

Es gibt viel Literatur zum Thema Zukunft. Was ist das Besondere an Ihrem Buch?

Scharfenorth: Mir ging es darum, die wichtigsten Entwicklungen auf unserem Planeten darzustellen — möglichst vollständig und in ihrer gegenseitigen Wechselwirkung. Viele Experten schreiben sparten- oder branchenbezogen. Sie widmen sich einer Innovation — blenden aber wichtige Einflussgrößen, die Ausmaß und Verlauf dieser Neuerung bestimmen, aus. Eindimensionale Betrachtungen können künftige Entwicklungen nur falsch abbilden.

Sie wollen also Gesamtzusammenhänge erläutern. Läuft man da nicht Gefahr, nur die Oberfläche zu treffen?

Scharfenorth: Nun, irgendwo sollte man schon „Fachmann“ sein. Dort, wo es an Kenntnissen mangelt, sind die Brötchen eben kleiner. Alle Themen beherrscht schließlich niemand.

Werden wir konkret. Was erwartet uns in den kommenden Jahren auf dem Arbeitsmarkt und beim Thema Bildung?

Scharfenorth: Wenn wir Wirtschaft und Finanzmärkte nicht bald bändigen, droht uns schon mittelfristig eine Katastrophe. Globalisierung und Freihandel werden die kleinen und mittleren europäischen Unternehmen sehr schnell ruinieren, weil niemand dem Preis-Leistungs-Verhältnis der aufkommenden Schwellenländer Paroli bieten kann. Wir rutschten in eine arbeitslose Gesellschaft, bei der die Armen noch ärmer und die Reichen noch reicher werden. Wenn wir es allerdings verstünden, uns im europäischen Rahmen abzuschotten, dann könnte ein Desaster vermieden werden. Die Bildung müsste künftig zentralen und strafferen Mustern folgen. Das dreigliedrige Schulsystem ist untauglich, die notwendige Zahl an zukunftsfähigen Menschen hervorzubringen. Nur wenn sechs bis acht Jahre lang gemeinsam gelernt wird, ist es möglich, zusätzliche Potenziale zu erschließen — vor allem aus bildungsfernen Schichten, die Spätzünder gebären und Talente allzu oft verschütten. Außerdem brauchen wir einen neuen Lehrertypen — ambitioniert, experimentierfreudig und durchsetzungsfähig.

Und wie geht es mit unserem Klima weiter?

Scharfenorth: Viele Wissenschaftler zweifeln inzwischen daran, dass das sogenannte „Zwei-Grad-Ziel“ noch erreicht werden kann. In so einem Fall sind irreversible Veränderungen im Weltklima zu erwarten — mit sehr vielmehr Dürren, Stürmen und Überschwemmungen.

Sie machen einem nicht viel Mut. Gibt es denn etwas Positives, auf das wir uns einstellen können?

Scharfenorth: Auf jeden Fall. Positiv ist, dass es inzwischen sehr viel mehr Kommunikation gibt, dass die Menschen zu begreifen beginnen, was los ist. Milliarden Bürger erfahren, was sie umgibt, wer sie unterstützt oder betrügt. Sie können gemeinsam ihre Rechte einklagen und für eine bessere Welt streiten.

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