Kopfrechnen mit Promille

WZ-Redakteur Benjamin Dietrich hat sich als Kellner auf dem Ratinger Weihnachtsmarkt versucht.

Ratingen. Die Spülmaschine rumpelt, aus der Ferne erklingt aus Lautsprechern „Stille Nacht, Heilige Nacht“, Menschen stehen Schlange. Sie wollen alle nur eins: Glühwein. Wahlweise auch Eierpunsch oder Kakao. Es ist 17 Uhr.

Damit beginnt die beste Verkaufszeit an der Glühweinbude der Familie Bruch auf dem Weihnachtsmarkt in der Ratinger Innenstadt. Denn abends, wenn es kalt wird und die Dunkelheit hereinbricht, wollen viele ihr Gemüt mit der roten Verführung und anderen Heißgetränken erwärmen. Und ich beginne meinen Dienst.

Helmut Kreuels nimmt mich in Empfang. Er macht den Job in der Glühweinbude schon seit Jahren. Wie viele, kann er gar nicht mehr sagen.

Es muss aber schon sehr lange sein, denn die goldenen Regeln des Glühweinverkaufens rattert er routiniert runter: „Immer wachsam sein, wer noch nicht bedient wurde; nicht verrechnen, wenn kassiert wird; zügig arbeiten und das Allerwichtigste: Das Danke und Bitte beim Bedienen nicht vergessen. Freundlichkeit ist Trumpf.“

„Klingt einfach“, denke ich. Kurz die Schürze um die Hüften geschwungen, die mir eine Kollegin gegeben hat, und schon stehe ich beim ersten Kunden. Der will zwei Glühwein. Kein Problem.

Die Bestellung rufe ich einer Kollegin am Zapfhahn zu — wenig später gehen zwei dampfende Becher über den Verkaufstresen. Ich kassiere sieben Euro und sage dem Kunden noch, dass er zwei Euro Pfand wiederbekommt. Das „Bitte“ und „Danke“ habe ich auch nicht vergessen.

In zehn Minuten werde ich 20 Tassen verkauft haben. Wie viel Liter an einem Tag ausgeschenkt werden, das will Helmut Kreuels nicht verraten. Es muss aber einiges sein. Unter den Zapfsäulen liegen riesige weiße Kanister, aus denen der gewürzte Rebensaft nach oben gepumpt wird. „Das funktioniert wie bei einem Durchlauferhitzer und geht ganz schnell“, erklärt Kreuels.

Das ist auch nötig: Die Bude wird immer voller, meine fünf Kollegen und ich müssen immer schneller bedienen. Puls und Körpertemperatur steigen.

Hin und wieder stehe ich ratlos in der Bude und frage mich, wo der Rum, der Amaretto oder der Eierpunsch stehen. Die Kollegen habe keine Zeit, um auf entsprechende Fragen zu antworten. Die durstige Masse will befriedigt werden. Ich verstehe schnell: In der Glühweinbude ist sich jeder selbst der Nächste. Erst als es ruhiger wird, sagt mir eine Kollegin, wo ich was finde.

Dann kommt der nächste Schwung Kunden. Und nicht jeder will nur Glühwein: „Haben sie mal eine Serviette?“ „Können Sie mir mal bitte ein Blatt Papier geben?“„ Haben Sie noch ein paar von den leckeren Spekulatius?“ Auch das sind Wünsche der Weihnachtsmarktbesucher.

Eine Frau stupst mich an und reicht mir einen Zettel. „Das hätte ich gerne“, sagt sie. Ich schaue auf das Blatt und spüre meinen Magen vor Nervosität: meine erste Großbestellung. Die Dame ordert sechsmal Glühwein, einen Kakao, zwei Kinderpunsche und drei Cola. Ich gebe die Bestellungen an die Kollegen an den Zapfsäulen weiter. Innerhalb von drei Minuten haben sie alles fertig. Jetzt muss ich Kopfrechnen. 36,50 Euro will ich haben.

Aber der Chef pfeift mich zurück. „Die haben doch Tassen zurückgebracht. Der Pfand muss abgerechnet werden“, sagt er. Ich rechne weiter. „Das macht nur 30,50 Euro, entschuldigen Sie bitte“, sage ich zu der Kundin.

Meine fünf Kollegen sind da viel routinierter. Sie rechnen schon während des Zapfens. Wie sie das hinkriegen, bleibt mir ebenso ein Rätsel wie ihre Belastbarkeit. Um 10 Uhr haben sie schon angefangen, die Bude aufzubauen, die ersten Gäste haben sie schon um 11 Uhr morgens bedient. Und den Weihnachtsmarkt werden sie erst zwölf Stunden später verlassen.

„Wir denken darüber gar nicht nach. Dafür haben wir keine Zeit“, sagt Kreuels. Und ich auch nicht — der nächste Kunde wartet auf Glühwein und Eierpunsch.

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