Gedenken an Holocaust-Opfer

Auch Juden aus Kempen, Grefrath, Willich und Tönisvorst waren von den Deportationen betroffen.

Gedenken an Holocaust-Opfer
Foto: Arthur Winter/Repro: Hans Kaiser

Kreis Viersen. Die Vernichtung warf ihre Schatten voraus. Seit 1938 mussten alle jüdischen Frauen und Männer zu ihren bisherigen Vornamen die Spottnamen „Sarah“ beziehungsweise „Israel“ tragen. Im November 1938 wurden überall in Deutschland jüdische Wohnungen und Geschäfte demoliert; in Kempen, Schiefbahn und St. Tönis brannten die Synagogen. Die Juden durften kein Gewerbe mehr ausüben, mussten ihre Häuser und Grundstücke zu Schleuderpreisen verkaufen. Seit September 1941 mussten alle, die älter als sechs Jahre alt waren, in der Öffentlichkeit einen gelben Stern mit der Aufschrift „Jude“ tragen.

Am Dienstag, dem Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, erinnern Menschen bundesweit an den Holocaust. Die WZ erinnert zum 70. Jahrestag an die Gräueltaten in Kempen, Grefrath, Willich und Tönisvorst.

Zurück in die Zeit des Nationalsozialismus: Angst und Propaganda wirken in der Bevölkerung. Auf dem Kempener Kirchplatz trifft die sechsjährige Elisabeth Dambacher die Jüdin Selma Bruch und deren Tochter Ilse. Die ist nur ein Jahr älter als Elisabeth, und arglos spricht das Kind die beiden an. Da stürzt aus einem anliegenden Haus eine Frau heraus, zerrt das „arische“ Mädchen von Selma und Ilse Bruch weg und fährt sie an: „Mit denen darfst du nicht erzählen!“ - „Natürlich darfst du mit denen sprechen“, tröstet zu Hause Mutter Magdalena Dambacher ihre verstörte Tochter. Dieser geht diese Episode heute noch nach.

Im November/Dezember 1941 werden im Landkreis Kempen-Krefeld die Juden von der Polizei aus ihren bisherigen Wohnungen ausquartiert und in sogenannten Judenhäusern zusammengepfercht — eine Vorform des Ghettos, die den Abtransport erleichtert. In Kempen leben nun acht Menschen in dem schmalen Haus an der Schulstraße 10, 17 in St. Tönis an der Hochstraße 67.

Kurz danach setzen die Deportationen ein. Die erste am 11. Dezember 1941 geht vom Düsseldorfer Schlachthof in das Ghetto von Riga im heutigen Lettland. Bei der Ankunft sind die Straßen dort noch von großen, gefrorenen Blutlachen bedeckt. Sie stammen von Menschen, die sechs Tage zuvor zur Erschießung geführt wurden und mit dem Tempo der Marschkolonne nicht mithalten konnten.

Wer krank ist, wird auf der abgedichteten Lastwagen-Ladefläche mit deren Abgasen erstickt wie Wilhelmine Mendel aus St. Hubert. Wer über besondere Fähigkeiten verfügt, hat eine Überlebenschance wie Selma Bruch aus Kempen, die für die SS die Kleider der Ermordeten zur Verteilung an bedürftige „Volksgenossen“ in Deutschland präpariert. Sie wäscht Blutflecken aus, stopft Einschusslöcher. Ihr Mann Rudolf, an Hungertyphus erkrankt, wird vor seiner Baracke auf der Erde liegend erschossen. Aber als ihre Tochter nach Auschwitz soll, steigt die Kempenerin freiwillig zu ihrem Kind auf den Lastwagen. Das soll heißen: „Du musst keine Angst haben. Wenn es zu Ende geht, werde ich bei dir sein.“

Am 22. April und am 15. Juni 1942 gehen aus dem Landkreis Kempen-Krefeld Transporte nach Izbica ab, am 25. Juli nach Theresienstadt in Böhmen. „Wir waren mit 35 Frauen auf 16 Quadratmetern zusammengepfercht“, hat eine Überlebende berichtet. Die Essens-Rationen sind erbärmlich: „Wer es nicht mit angesehen hat, wie die alten Menschen sich am Schluss der Essensausgabe auf die leeren Fässer stürzten, mit den Löffeln sie auskratzten, selbst die Tische, auf denen ausgeteilt wird, nach Resten mit Messern untersuchten, der vermag sich kein Bild davon zu machen, wie schnell Menschenwürde verloren geht“.

Die Habe der Deportierten wird auf Anweisung des Kempener Finanzamts öffentlich versteigert. Das Finanzamt selbst, damals im Kempener Franziskanerkloster untergebracht, bereichert seine Räume mit den Büromöbeln jüdischer Kaufleute. Aus Kempen, Willich, Tönisvorst und Grefrath sind insgesamt 135 Ermordete nachgewiesen.

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