Kempen - WZ-Interview mit Autor Hans Kaiser: „Erklären, nicht anklagen“

Im Anschluss an die WZ-Serie „Kempen unterm Hakenkreuz“ spricht der Autor Hans Kaiser über Reaktionen und seinen persönlichen Einsatz.

WZ: Herr Kaiser, wie waren die Reaktionen auf die Serie?Hans Kaiser: Von einer Ausnahme abgesehen durchweg positiv. Es gab eine Menge Reaktionen, viele Leute sprachen mich auch auf der Straße beim Brötchenkauf o.ä. an. Das schönste Kompliment, das ich gehört habe, war, dass ich einfühlsam und ausgewogen über die Zeit des "Dritten Reiches" berichtet hätte. Das war auch mein Ansatz: erklären, aber nicht anklagen. WZ: Sie sprechen eine Ausnahme an...Kaiser: Ja, das betrifft einen Bürger, dessen Vorfahre in der Serie vorkam und dessen Namen er lieber nicht in diesem Zusammenhang veröffentlicht gesehen hätte. Aber es ist ein Gebot der Glaubwürdigkeit, dass auch Namen genannt werden. Wenn das Buch erscheint, werden weitere Namen auftauchen.

"Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist genau richtig. Das Schwarz-Weiß-Denken wird durch die Suche nach der Wahrheit ersetzt."

WZ: Gab es Reaktionen von Opferseite?Kaiser: Nein, bislang nicht. Man muss aber auch sehen, dass es heute in Kempen mit Emmi Mendel, geborene Dahl, nur noch eine Überlebende des Holocaust gibt. WZ: Werden Sie von der Stadt, von Behörden oder von anderer Seite unterstützt?Kaiser: Oh ja, hier will ich vor allem Bürgermeister Karl Hensel und Kulturdezernent Volker Rübo sowie Sparkassen-Kuratoriums-Mitglied Rudi Alsdorf hervorheben, die sich bei der Sparkassen-Stiftung dafür eingesetzt haben, dass mein Projekt finanziell unterstützt wird. Der Geschichts- und Museumsverein firmiert als Herausgeber des Buches. Das Kreis-Archiv öffnet mir alle Türen beim Quellen-Studium, beim Buch Verlag Kempen bin ich in guten Händen. Auch von Seiten der Bürger spüre ich viel Unterstützung. WZ: Dennoch sprechen Sie im Vorwort Ihres Buches einen Prozess der Spurenverwischung an, der bis jetzt anhält.Kaiser: Das ist leider so. Fakt ist, dass 1945 bis 1947 umfangreiches Aktenmaterial bei der Kempener Stadtverwaltung vernichtet worden ist. WZ: Warum erst jetzt diese Aufarbeitung, gut 60Jahre nach Kriegs-Ende?Kaiser: Der Zeitpunkt ist genau richtig. Nach dem Krieg gab es die erste Welle der Verdrängung, gefolgt von der zweiten Welle der Anklage. Wir befinden uns nun in der dritten Welle, wo die sachlichen Interessen im Vordergrund stehen und der emotionale Anteil heruntergeschraubt ist. Das Schwarz-Weiß-Denken wird durch die Suche nach der Wahrheit ersetzt.

"Wir Nachgeborenen sollten uns auf dem moralischen Hochsitz nicht so sicher fühlen."

WZ: Was autorisiert den Historiker Dr.Hans Kaiser, sich an dieses sensible Thema heranzuwagen?Kaiser: Ich empfinde selbst eine gewisse Anfälligkeit für die Zeit des "Dritten Reiches". Ich muss mir eingestehen, dass ich spätestens 1936 in die NSDAP eingetreten wäre. Aus einer Position des Selbstzweifels bin ich also an die Quellen gegangen. Wir Nachgeborenen sollten uns auf dem moralischen Hochsitz nicht so sicher fühlen. Über das Empfinden, für die Posen der Macht anfällig zu sein, will ich aufklären. Niemand sollte heute sagen dürfen: Das wäre mir nie passiert. WZ: Wo sehen Sie Ihre Rolle: Ankläger, Richter, Chronist, Aufklärer?Kaiser: Ich würde sagen: aufklärender Chronist; oder besser noch: er-klärender Chronist. WZ: Sie thematisieren, dass es in Kempen eine Wilhelm-Grobben-Straße, aber keine Selma-Bruch-Straße gibt. Selma Bruch ist die Kempener Jüdin, die ihrer Tochter Ilse im Dezember 1941 in die Gaskammer folgte.Kaiser: Eine Selma-Bruch-Straße wäre für mich ein Akt der Wiedergutmachung. Aber ich bin Historiker, kein Politiker und auch in keiner Partei. Ich kann also nur Informationen liefern, den Rest müssen die Stadtväter entscheiden. WZ: Sie ernteten Kritik, als Sie den Kempener NS-Ortsgruppenleiter Wilhelm Grobben neben den Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass (Foto) stellten, der in der Waffen-SS war.Kaiser: Ihnen gemeinsam war die Verstrickung in die Maschinerie des "Dritten Reiches". Ich weiß nicht, was Grass gemacht hätte, wenn man ihm befohlen hätte, auf Zivilisten zu schießen. WZ: Sie arbeiten als Lehrer viel mit jungen Menschen zusammen: Glauben Sie, diesen jungen Leuten mit Ihrem Buch eine Stütze zu geben, dass sie beispielsweise im Umgang mit Gewalt sensibilisiert werden?Kaiser: Ein Buch alleine reicht da sicher nicht aus. Eine gewisse Basis muss schon da sein, das muss das Elternhaus leisten. Ich kann die Jugendlichen nicht ändern, aber vielleicht nachdenklich machen. Ich spüre eine tiefe Betroffenheit, wenn es im Unterricht um den schwersten Bombenangriff auf Kempen mit mehr als 100Toten geht. In dieser Nähe zum lokalen Geschehen sehe ich auch den Vorteil des Buches.

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