Studienfahrt: Als „Zweitzeugen“ in Auschwitz

14 Schüler haben das ehemalige KZ besucht — und versuchen nun, Erlebtes zu verarbeiten.

Studienfahrt: Als „Zweitzeugen“ in Auschwitz
Foto: Kurt Lübke

St. Tönis. „Dieser Haufen an Haaren.“ Der Berg abgeschnittener Haarbüschel, dieser Anblick beim Besuch im Auschwitz-Stammlager geht Johanna nicht aus dem Kopf. „Das hat mich erschlagen“, sagt die junge Michael-Ende-Schülerin. Ihr ist auf der viertägigen Studienreise nach Polen das Ausmaß der „Entmenschlichung“ deutlicher geworden. Christina muss immer wieder daran denken, was sie nach Einsicht in Archivunterlagen über medizinische Versuche des Lagerarztes Josef Mengele erfahren hat: „Er hat einem Mann einen Hundekiefer eingesetzt. Furchtbar.“

Heute vor einer Woche sind 14 Schüler des Michael-Ende-Gymnasiums mit eindrücklichen und erdrückenden Erlebnissen im Gepäck wieder in ihren Alltag eingetaucht. Sie trafen in der Schule auf Unterricht und Mitschüler, die sich nach dem freien und vielleicht gefeierten Karnevalswochenende zum ersten Mal wieder sahen.

Christina, Jannek, Jonathan, Yannik, Johanna, Özben und die anderen hatten seitdem kaum ausreichend Zeit, ihre Erlebnisse und Erfahrungen zu verarbeiten. Vier Tage in Krakau, im Auschwitz-Stammlager und im KZ Auschwitz-Birkenau haben Spuren im Gefühlsleben der 17-Jährigen hinterlassen. Viele Bilder und Empfindungen lassen sie nicht mehr los. Özben hatte sich der Fahrt mit der Motivation angeschlossen, mehr über die Vernichtungsstätte erfahren zu wollen. Das, was sie vor Ort sah, hörte und las, hat heftige körperliche Reaktionen bei ihr ausgelöst. „Die Tränen flossen. Ich wollte nicht mehr reden. Ich habe mich erschöpft gefühlt, hatte die ganze Zeit ein Ziehen im Brustkorb.“

Johanna, Schülerin

Als sie den Weg zu den Gaskammern gegangen seien, „so wie die Juden bis vor 70 Jahren, musste ich daran denken, dass sie den Weg nicht zurückgekehrt sind“.

Christina erzählt, wie still und nachdenklich alle oft waren. Lisa hat den Raum vor Augen, in dem eine Künstlerin Zeichnungen von Kindern aufgehängt hat: „Sie zeigten Menschen, die im Stacheldrahtzaun hingen.“

Carina denkt mit Grauen an die Räume, die für die durchorganisierte Massenabfertigung im Lager standen. In ihnen mussten sich die Ankömmlinge damals entkleiden, dort wurden sie geschoren und mit Häftlingskleidung ausgestattet. Jannek hat, als er wieder zu Hause war, seine Schuhe gereinigt. Es sei ihm wichtig gewesen, es selbst zu tun, sagt er. Wie ein ehrfurchtsvoller Akt bewussten Erinnerns. „Wir sind sicher dort über die verstreute Asche der Toten gelaufen.“ Ein für ihn schwer erträglicher Gedanke. Obwohl sie an den vielen Bildern zu tragen haben, sind die Schüler merklich froh, an der Reise teilgenommen zu haben. Sie spüren nach Besichtigung, Archiveinsicht und ihrem Gespräch mit dem ehemaligen polnischen Häftling Wenzel Dlugoborski aus Polen eine Verantwortung: „Es gibt nur noch 19 Zeitzeugen“, sagt Jannek. Umso froher sei sie, sagt Johanna, dass sie alle nun „Zweitzeugen“ seien.

Alle Schüler sind noch dabei, das Erlebte in Worte zu fassen, zu ordnen, zu verarbeiten. Yannik erzählt, es sei schwierig, sich anderen, die nicht mit in Auschwitz waren, mitzuteilen. Carina: „Ich kann ja anderen nicht sagen, es war total interessant.“ Das sei nicht angemessen. Eigene Fotos haben die Schüler kaum gemacht. Johanna: „Fotos mit dem Handy machen, das wäre dem Ort nicht angemessen, sondern beschämend gewesen.“ Die Gruppe ist durch die gemeinsame Fahrt eng zusammengerückt.

Mehrere Schüler betonen, dass sich auch dies mitgenommen haben vom Ort der Vernichtung: den Willen, bewusster hinzusehen. Und auch Lebensmut und -freude. Jannek: „Wenzel Dlugoborski beispielsweise ist um die 90. Er zeigte viel Lebensfreude. Und er will sogar noch ein Buch schreiben.“ Ähnliches werden auch die Michael-Ende-Schüler tun. Sie werden ihre Reise dokumentieren. Ihre Worte werden sie finden.

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