Bereit für den Orientexpress

Neersen hatte einen riesigen Bahnhof. An ihn erinnert heute nur eine Bushaltestelle.

Neersen. Wer ab und an mit dem Auto oder dem Bus von Neersen in Richtung Mönchengladbach fährt, dem ist die einsame Haltestelle „Neersen Bahnhof“ sicher schon einmal aufgefallen. Sie liegt in der Nähe der Cloerbruchallee, gut 1,2 Kilometer vom Neersener Ortskern entfernt. Wohnhäuser sind dort nirgendwo zu sehen, erst recht kein Bahnhofsgebäude. Doch das war bis vor 40 Jahren anders: Neersen verfügte über den vielleicht imposantesten Bahnhof auf dem Gebiet der heutigen Stadt Willich.

„Errichtet worden war er zwischen 1874 und 1877 in einem orientalisch anmutenden Stil“, sagt Stadtarchivar Udo Holzenthal. Wie so oft bei öffentlichen Gebäuden in der Kaiserzeit handelte es sich nämlich nicht nur um einen nüchternen Zweckbau. Üppige Ziermusterungen im Backstein und aufgesetzte Giebel bestimmten vielmehr das Bild des großen Bauwerks.

Der Orientexpress hat nie in Neersen gehalten — auch wenn er gut zum Gebäude gepasst hätte. Doch warum ist dort überhaupt ein solch riesiger Bahnhof gebaut worden? „Der Ort lag im Knotenpunkt für zwei Strecken: Zum einen Neuss — Schiefbahn — Viersen, zum anderen Krefeld — Willich — Niederheide — Mönchengladbach“, erläutert Holzenthal. Betrieben wurden beide Trassen von der privaten „Rheinischen Eisenbahngesellschaft“.

Erst nach der Übernahme durch die Reichsbahn kam aber wirkliches Leben in den Bahnhof. Sie ließ 1909 die Gleise aus Richtung Willich, die zuvor in Neuwerk geendet hatten, bis Mönchengladbach verlängern. Vor allem während und auch noch nach dem Ersten Weltkrieg waren dort viele Züge unterwegs.

Im Zweiten Weltkrieg war es damit aber vorbei: Ende 1944 wurde eine Brücke hinter Neuwerk gesprengt, die Verbindung nach Mönchengladbach war damit wieder gekappt. Was sich auch nach dem Krieg nicht mehr ändern sollte.

Ebenfalls 1944 war das Bahnhofsgebäude durch eine Luftmine schwer beschädigt worden. Nach dem Kriegsende sind deshalb die schönen Giebelaufbauten entfernt worden.

Dennoch blieb der Bahnhof noch lange in Betrieb. Das hatte er der 6,5 Kilometer langen Trasse in Richtung Viersen zu verdanken. Sie war am 1. November 1878 in Betrieb gegangen und nur einspurig ausgebaut worden.

Der Neersener Heinz Amfaldern erinnert sich, dort 1959 regelmäßig mit dem Zug zur Arbeit nach Düsseldorf gefahren zu sein. „19 Jahre war ich damals und wohnte noch in Viersen. Mit dem roten Schienenbus dauerte die Fahrt über Neersen und Schiefbahn 45 Minuten. Und die Züge waren immer knackevoll.“ Als „Geheimtipp“ unter Handwerkern habe damals das „Büdchen“ neben dem Bahnhof gegolten. „Da wurde immer Skat gespielt“, berichtet Amfaldern.

In den 60er Jahren verlor die Verbindung und damit auch der Bahnhof immer mehr an Bedeutung. Am 29. September 1968 wurde die Strecke für Personenzüge stillgelegt. „Und der letzte Güterzug fuhr dort 1984“, erinnert sich der Schiefbahner Johannes Pilger, dessen Großvater lange bei der Eisenbahn auf dem Stellwerk kurz vor Neersen beschäftigt war.

Das Bahnhofsgebäude erlebte den endgültigen Niedergang schon nicht mehr: Es war am 16. August 1972 gesprengt worden. Erhalten geblieben ist einzig eine einsame Bushaltestelle . . .

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