Bernd-Dieter Röhrscheid über das Leben jüdischer Familien

Bernd-Dieter Röhrscheid hat viel über das Leben jüdischer Familien herausgefunden. Einstige Frontkämpfer fühlten sich sicher.

Schiefbahn/Anrath. Nein, vom „Schicksal“ jüdischer Familien in der Zeit des Nationalsozialismus’ möchte Studiendirektor Bernd-Dieter Röhrscheid nicht sprechen: „Eine höhere Macht hat damit nichts zu tun. Die Juden sind damals systematisch ermordet worden.“ Seinen Vorträgen über die schrecklichen Ereignisse jener Jahre hat der Lehrer für Politik, Sozialwissenschaften und Sport, der trotz Ruhestand noch zweimal in der Woche Unterricht am St. Bernhard-Gymnasium gibt, daher einen anderen Namen gegeben: „Ausgegrenzt — entrechtet — deportiert — ermordet. Jüdische Familien nach 1933.“

Nachdem Röhrscheid vergangene Woche im Heimatmuseum über Schiefbahner Juden berichtet hatte, standen am Donnerstag in der Aula des Lise-Meitner-Gymnasiums Anrather Familien im Mittelpunkt. Für eine davon werden am 9. Dezember Stolpersteine vor ihrem ehemaligen Haus am Kirchplatz verlegt: Max und Rosa Servos, ihr Sohn Fritz und dessen Frau Charlotte, geborene Servos, sind von den Nazis ermordet worden.

Bernd-Dieter Röhrscheids Berichte über diese und andere Menschen jüdischen Glaubens aus dem Gebiet der heutigen Stadt Willich sind ein Zwischenstand intensiver Recherchen, die er gemeinsam mit Stadtarchivar Udo Holzenthal anstellt. Das Ergebnis soll später in einem Buch zusammengefasst werden.

Einige wichtige Erkenntnisse kann Röhrscheid schon dokumentieren. So vor allem die allmähliche Ausgrenzung und Entrechtung der Juden im Dritten Reich. Die fangen scheinbar harmlos an. So wird 1936 in Anrath ein Gedenkstein für die gefallenen Soldaten des Weltkrieges 1914 bis 18 aufgestellt. Auf ihm fehlt aber ein Name: Der Jude Arthus Servos, der 1915 an der Front sein Leben verlor, war weggelassen worden. „1950 hat man ihn dann nachgetragen“, berichtet Röhrscheid.

1938 schreibt der Schiefbahner Bürgermeister Geldbach an eine Firma in Bielefeld. „Ist Ihnen bewusst, dass Ihr Mitarbeiter Friedrich Kaufmann Jude ist?“, will er wissen. Jüdische Kinder dürfen 1938 nicht mehr gemeinsam mit „Ariern“ in der Schulbank sitzen, darunter die 15-jährige Margot Rübsteck aus Schiefbahn, die bis zu diesem Zeitpunkt die Ricarda-Huch-Schule in Krefeld besucht hatte. Ihr gelingt ein Jahr später die Flucht nach Amsterdam, wo sie überlebt.

1937/38 werden auch Berufsverbote verhängt, zum Beispiel gegen den Viehhändler Albert Servos aus Anrath. Nach der Pogromnacht am 9. November wird er bis Januar 1939 in Dachau in „Schutzhaft“ genommen. Ihm gelingt nach der Freilassung mit seiner Familie im Juli 1939 die Flucht in die USA.

Andere bleiben — vor allem viele ehemalige Soldaten, die im „Reichsbund Jüdischer Frontkämpfer“ organisiert sind. Auch Angehörige der Schiefbahner Familie Kaufmann waren dort Mitglied. Sie sind deutsche Patrioten, fühlen sich daher sicher — und doch werden sie nur eine ganz kurze Zeit verschont.

Auch Max Servos, ein erfolgreicher Händler mit Ölen und Fetten, in Anrath deshalb „Öler“ genannt, war im Krieg Soldat gewesen. Mehr noch: „Er war mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichnet worden“, so Peter Enger jüngst in einem Aufsatz über die jüdischen Bürger von Anrath. Servos zählte daher zu den „priviligierten Juden“, denen in der Wannsee-Konferenz „versprochen“ wird, in das „Alters-Ghetto“ Theresienstadt umsiedeln zu dürfen. Max Servos stirbt dort im März 1944 im Alter von 67 Jahren, seine Frau schon ein Jahr zuvor — angeblich an einem „Herzfehler“.

Ihre beiden Töchter überleben: Ella Servos flieht schon Anfang 1939 nach England. Ihre Schwester Meta wird im Sommer des gleichen Jahres wegen einer Beziehung mit einem „Arier“ verhaftet. Sie wird mit der Auflage entlassen, das Land innerhalb von 24 Stunden verlassen zu müssen — und folgt ihrer Schwester. „1940 wird sie ausgebürgert“, so Bernd-Dieter Röhrscheid.

Wie schwer sich die deutschen Behörden nach Ende des 1000-jährigen Reiches mit der eigenen Vergangenheit tun, ist ebenfalls aus seinen Recherche-Ergebnissen zu erkennen. So erkundigt sich 1950 ein überlebender Angehöriger der Anrather Familie Grünewald (Viersener Straße) von Israel aus nach dem Verbleib seiner Geschwister. Die Gemeindeverwaltung Anrath vermerkt dazu, Moses und Berta Grünewald seien im Dezember 1941 „ausgewandert“: „Angaben über den Verbleib können von hier nicht gemacht werden.“ Tatsächlich waren beide in Riga und Auschwitz umgekommen.

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