Lucien Favre im Interview: "Ich brauche keine aggressiven Worte"

Bundesliga-Dritter, Seriensieger, Champions-League-Kandidat: Borussia Mönchengladbach lebte lange in und von der Vergangenheit. Seit Lucien Favre Cheftrainer ist, schmeckt die Luft am Niederrhein wieder nach Aufbruch.

Favre auf dem Spielfeld: Er ist ein Trainer der leisen Töne (Quelle: dpa)

Favre auf dem Spielfeld: Er ist ein Trainer der leisen Töne (Quelle: dpa)

Foto: Matthias Balk

Münster. Bundesliga-Dritter, Seriensieger, Champions-League-Kandidat: Borussia Mönchengladbach lebte lange in und von der Vergangenheit. Seit Lucien Favre Cheftrainer ist, schmeckt die Luft am Niederrhein wieder nach Aufbruch. Der Schweizer, so ist die allgemeine Wahrnehmung, hat den großen Traditionsverein geweckt. Als er im Februar 2011 die Nachfolge des entlassenen Michael Frontzeck antrat, war der fünffache Deutsche Meister gerade auf dem Weg in die Zweite Liga. Unter Favres Führung wendete Gladbach den dritten Abstieg in letzter Sekunde ab. Danach begann der Aufstieg, im Hier und Jetzt sind die Fohlen wieder eine große Nummer. Unser Redaktionsmitglied Wilfried Sprenger besuchte den 57-jährigen Trainer im Borussia-Park.

Schweizer Pünktlichkeit geht eigentlich anders. Mit knapp 30minütiger Verspätung bittet Lucien Favre zur Audienz. Die findet an diesem Tag nicht in seinem Reich statt, sondern in der guten Stube von Mediendirektor Markus Aretz. Favre stand am Vormittag schon auf dem Trainingsplatz, er wirkt aufgeräumt und konzentriert. Und weil er auch neugierig ist, dreht er das Frage-und-Antwort-Spiel direkt einmal um.

Sie kommen aus Münster? Fahrradstadt oder?

Sprenger: Ja, Fahrradstadt.

Ist die Stadt so klasse wie man sagt?

Sprenger: Ja, Münster ist tatsächlich sehr schön und mehrfach ausgezeichnet.

Favre: Und macht alles für Fahrräder. Was für ein Vergleich mit der Schweiz. Wir haben nichts für Fahrräder.

Lucien Favre stammt aus St. Barthelemy, einem kleinen Ort im Kanton Waadt. Die Ansiedlung hatte in den 70er Jahren etwa 200 Einwohner, 150 von ihnen trugen den Nachnamen Favre. Das Dorf ist gewachsen und inzwischen für 800 Menschen Heimat.

Herr Favre, Ihre Eltern waren Bergbauern. Sie hätten auch den Hof übernehmen können ...

Favre: Nein, das wäre katastrophal geworden. Ich hatte von Anfang an kein Interesse. Nur an den Tieren und der Natur.

Und an Fußball. Ihr Dorf war sehr klein, gab es einen Platz oder wenigstens eine Wiese?

Favre: Damals war alles anders. Pro Tag fuhren nur zehn Autos durchs Dorf. Wir haben auf der Straße gespielt. Wann immer es ging: Vor der Schule, nach der Schule, egal. Alle Freunde waren dabei. Ich erinnere mich besonders an die Winter. Wenn mein Bruder und ich keine Lust hatten, ins Bett zu gehen, sind wir raus und haben im Schnee Fußball gespielt. Manchmal bis zehn Uhr abends.

Die Alpen waren sehr nahe. Sie hätten auch ein berühmter Bergsteiger oder ein großer Skifahrer werden können ...

Favre: Ja, mit dem Wagen mussten wir nur eine Stunde fahren, dann waren wir schon sehr hoch. Ich kann auch Skifahren. Ach, wir haben damals alles gemacht. Wenn unser Teich zugefroren war, haben wir Eishockey gespielt. Ich war im Tor und das Eis meistens sehr dünn. Das war gefährlich. Aber als Kind denkst du darüber nicht nach. Du machst alles, was du kannst.

Hatten Sie eine glückliche Kindheit?

Favre: Sehr. Einfach, aber sehr glücklich. Die Freunde, der Sport. Es war super. Wie gesagt, wir haben alles gemacht.

Dazu passt diese Geschichte: Während einer Schulstunde sollen Sie mal einen Motorradhelm getragen haben.

Favre: Daran erinnere ich mich nicht.

Ihr Sohn hat die Geschichte erzählt ...

Favre (vergräbt sein Gesicht in beiden Händen): Er hat das erzählt? Ach, da war ich 16 oder 17, es war doch nur ein Spaß. Flausen sagt man, glaube ich, auf deutsch.

Sie sind in den 70er Jahren groß geworden, da gab es in Deutschland einen Zweikampf zwischen Mönchengladbach und dem FC Bayern. Haben Sie das in der Schweiz verfolgt?

Favre: Ja, ich kannte die Bundesliga. Aber ich erinnere mich mehr an Europa. Damals waren Gladbach und Liverpool die großen Mannschaften. Ich weiß sehr viel über die Gladbacher Geschichte. Sie hatten viele große Spieler und auch große Trainer.

Der populärste Trainer war Hennes Weisweiler. Heute fällt Ihr Name in einem Atemzug mit seinem. Wie angenehm ist Ihnen das?

Favre: Sehr angenehm natürlich. Wir sind uns sogar einmal begegnet. Im Pokalfinale. Da war er Trainer bei den Grashoppers Zürich und ich Spieler in Genf. Er hat gewonnen. Später hat er mich zum besten Spieler in der Schweiz nominiert.

Weisweiler konnte durchaus einmal laut werden. Sie sind eher ein Trainer der leisen Töne ...

Favre: Leise, das ist die Wahrheit. Selten spreche ich laut. Sehr selten. Sehr, sehr selten. Auch wenn ich enttäuscht bin, bleibt es intern. Ich brauche keine aggressiven Worte.

Gladbach hat lange in und von der Vergangenheit gelebt. Dann kam Lucien Favre. Ihr Vorname bedeutet ,der Erleuchtende‘. Haben Sie Licht ins Dunkel gebracht?

Favre: Ich mag solche Deutungen nicht. Ganz allein machst du nichts. Du brauchst Kompetenz um dich herum. Ich bin eine Ergänzung zu anderen, eine gute Ergänzung.

Was fällt Ihnen zu Jürgen Klopp?

Favre: Warum fragen Sie?

Er hat unlängst gesagt, dass Gladbach die Mannschaft ist, die in den vergangenen zwei Jahren den größten Leistungssprung gemacht habe. Stimmen sie zu.

Favre: Ja, ja, wir haben einen guten Sprung gemacht. Aber es ist erst November, es geht schnell zwischen oben und unten. Es liegt an nicht viel. Wir müssen am Boden bleiben, wir müssen vernünftig bleiben. Gerade wenn man sieht, was die anderen Vereine für Möglichkeiten haben. Dass er das gesagt hat, ist natürlich nett.

Klopp hat auch gesagt, dass für Gladbach in diesem Jahr nur wenige Wege an der Champions League vorbeiführen ...

Favre: Er kann das sagen, das ist kein Problem für mich. Aber noch einmal: wir sind im November. Wir müssen sehen, dass wir uns stabilisieren. Nicht vergessen, 2011 noch hatten wir Abstiegskampf.

Stabilisieren, was heißt das?

Favre: Nichts mehr mit der Relegation zu tun haben. So schnell wie möglich Punkte machen. In der Europa League spielen. Und dann vielleicht den nächsten Schritt gehen. Das ist möglich, warum nicht, aber unglaublich schwer. Und die Bundesliga hat in den letzten Jahren unglaubliche Fortschritte gemacht. Man sieht das ja auch im internationalen Vergleich. Und es wird so weitergehen. Vorne hast du Bayern, Dortmund, Leverkusen, Schalke, Wolfsburg. Auch Hoffenheim. Und dann die anderen guten Mannschaften. Jedes Wochenende ist ein Kampf. Egal, gegen wenn wir spielen, es ist hart.

Und dann tanzt Gladbach auch noch auf drei Hochzeiten. Andere Clubs stöhnen ...

Favre: Es gefällt uns, dreimal in der Woche zu spielen. Nur so wird auch in Europa wieder über uns geredet.

Trotzdem, die Belastung ist enorm ...

Favre: Ja natürlich, sie ist groß, weil alles immer rasanter wird. 1954 ist ein Spieler vier Kilometer gelaufen. Heute sind es manchmal mehr als zwölf oder 13. Und dazu musst du immer an dir arbeiten und dich verbessern. Jeden Tag, jeden Woche, jeden Monat. Es geht um Fortschritte, individuell und im Kollektiv. Der Spieler, der das nicht versteht und sich zurücklehnt, ist tot und wird in einem Jahr nicht mehr in der Bundesliga spielen. Nirgendwo.

Vor zwei Jahren hat Gladbach auf einen Schlag Dante, Reus und Neustädter verloren. Haben Sie Angst, dass bald wieder einer mit der großen Brieftasche vor der Tür steht.

Favre: Angst, nein. Die einzige Lösung für uns ist, auf Nachwuchsspieler zu setzen. Wir haben schon einige richtig gute im Verein. Aber wir dürfen nicht nachlassen und müssen noch mehr an diesem Thema arbeiten. Ich sage Ihnen das: Im vergangenen Winter waren wir interessiert, Kevin de Bruyne (Chelsea/jetzt Wolfsburg) sechs Monate auszuleihen. Es war unmöglich, wir haben das schnell kapiert. Also suchen wir junge Spieler. Es ist auch ein Kampf für unseren Sportchef, weil du heutzutage die ganze Welt als Konkurrenten hast. Da ist ein guter Nachwuchsspieler in Kasachstan oder Aserbaidschan oder ein junger Afrikaner im Kongo. Und alle Berater wissen das. Die Welt hat fast keine Grenzen mehr. Das ist verrückt.

Europa League, Bundesliga, DFB-Pokal. Sie sind zurzeit ständig auf Achse. Wo finden und suchen Sie Ruhe und Entspannung?

Favre: Ich schwimme, fahre Rad, gehe spazieren und bin gern in der Natur. Und Kultur mag ich auch. Am letzten Wochenende war ich mit meiner Frau in Brüssel. Erst Essen und dann im Kino. Ein französischer Film: Samba. Einfach klasse, großartig. Schauen Sie ihn sich an und sagen Sie mir, wie Sie ihn fanden.

Das mache ich gern. Wo würde ich Sie in zehn Jahren erreichen, wenn Sie Ihren Lebensabend genießen?

Favre: Wahrscheinlich in meinem Dorf. Da, wo ich meine Familie und meine Freunde treffe. Ich habe da ein Haus, von dort kann ich die Berge sehen, auch den Mont Blanc. Die Schweiz ist schon sehr schön.

Und Ihr kleines Dorf hat noch einen zweiten Helden: Tennisprofi Stan Wawrinka, der spielt gerade in Lille das Finale des Daviscups ...

Favre: Eigentlich wollte ich hin. Ich bin mit Stans Vater zur Schule gegangen, und seine Mutter kenne ich auch gut. Aber Helden sind wir nicht. Und ...

Ja?

Favre: Wenn ich das sagen darf: Unser Dorf hat noch einen bekannten Mann. Den Erfinder des Nes­pressos. Übrigens auch ein Favre.

30 Minuten waren für das Gespräch vereinbart. Eine knappe Stunde hatte Favre am Ende Zeit. Der Meister der Kleinigkeiten nimmt es mit der Uhr nicht so genau. Gut so.

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