Neuer Mietspiegel: Sozial verträglich oder weltfremd?

Die Sätze des Kreises für Hartz-IV-Empfänger zu niedrig: Bürgermeister Napp will städtischen Spiegel.

Rhein-Kreis Neuss. Welcher Wohnraum ist für Hartz IV-Empfänger und Bezieher von Sozialhilfe angemessen? Seit dem 1. August dient der grundsicherungsrelevante Mietspiegel hier als Richtlinie. Doch auch fast sechs Monate nach seiner Einführung bleiben die neuen Mietobergrenzen für den Rhein-Kreis Neuss umstritten.

Das gilt vor allem für die Stadt Neuss. Aus Sicht von Bürgermeister Herbert Napp sind die neuen Sätze „weltfremd“ und gehen vollkommen am Bedarf vorbei. Im Vergleich zum öffentlich geförderten Wohnraum ist die neue Wohnungsgröße im Schnitt sieben Quadratmeter zu klein, sagt Napp. Er will den Mietspiegel absetzen und für Neuss einen eigenen erstellen lassen. Wie das konkret aussehen kann, werde derzeit geprüft, heißt es aus dem Rathaus.

Die vorliegenden Neusser Mietobergrenzen halten einer gerichtlichen Prüfung nicht stand, meint Napp. Bei Gericht bereite man sich schon auf mögliche Klagen vor. Die Stadt verspricht Betroffenen juristische Unterstützung.

„Die Neusser Werte liegen unter der Richtlinie des Landes, das ist eine bedenkliche Entwicklung“, sagt Bauverein-Chef Frank Lubig. Über 800 Beratungsgespräche hat der Bauverein seit August mit besorgten Mietern geführt. 13 Mieter seien bisher aufgefordert worden, sich eine neue Wohnung zu suchen. Neubauwohnungen könne der Bauverein künftig nicht mehr vermieten. „Das liegt nicht daran, dass wir so teuer sind, sondern weil die Mietwerte einfach viel zu niedrig angesetzt sind“, erklärt Lubig.

Das Jobcenter hat mit dem Stand von Ende November im Rhein-Kreis 257 Aufforderungen zur Kostensenkung verschickt, in Neuss sind es 169 Briefe. Die Betroffenen werden darin aufgefordert, ihre Mietkosten zu senken; was letztlich bedeutet, dass sie sich eine neue Wohnung suchen müssen.

Eine Kostensenkungsaufforderung sei nicht gleich eine Kündigung. Kürzungsbescheide hat das Jobcenter bislang noch nicht ausgestellt. Kreissozialdezernent Jürgen Steinmetz glaubt nicht, dass es eine Flut von Umzugsaufforderungen geben wird. Zwar seien unterschiedliche Interessen im Spiel, der Kreis habe die Vorgaben für den Mietspiegel aber richtig umgesetzt: „Wir wollen sozial gerecht und sozial verträglich handeln.“ Er verweist auf die Frist von sechs Monaten und die Einzelfallprüfung.

Angela Stein-Ulrich von der Arbeitslosenberatungsstelle an der Drususallee hat andere Erfahrungen gemacht. Sie hat in der Woche etwa fünf bis sechs Anfragen zum Mietspiegel. Sie versucht, die Betroffenen zu beruhigen, legt Widersprüche ein. Teilweise seien die Kostensenkungsaufforderungen auch fehlerhaft ausgestellt, und es komme zu Fehlern in der Berechnung.

„Viele Menschen sind geschockt. Sie weinen, wenn sie lesen, dass sie umziehen müssen. Sie glauben, dass mit der Aufforderung auch gleich ihre Leistungen gekürzt werden“, berichtet sie. Aus ihrer Sicht müsse das Schreiben auch sprachlich überarbeitet werden.

In ihren offenen Sprechstunden stehen die Leute oft Schlange. Angela Stein-Ulrich versteht sich als Moderatorin. „Es geht darum, dass die Leute ihre Existenzsicherung, Wohnraumsicherung haben. Dass sie wissen, wo sie ihr Kind unterbringen können“, sagt Stein-Ulrich. Eine Einzelfallprüfung sieht sie nicht für alle gewährleistet: Schließlich müssten dazu die Betroffenen zur Beratungsstelle kommen.

Steinmetz verspricht Nachbesserungen: Die Schreiben sollen eindeutiger formuliert werden.

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