Eine sprachlose Familie, bis der Gletscher bricht

Bettina Jahnke inszeniert Simon Stephens’ „Harper Regan“ am Rheinischen Landestheater.

Neuss. Harper Regan lebt in einem Londoner Vorort. In der Familie gären unausgesprochene Konflikte, und nach dem Tod ihres Vaters wird der 41-jährigen verheirateten Mutter klar, dass nichts so ist, wie sie geglaubt hat.

Ein sperriges und doch positives Stück. Am Freitag feierte Simon Stephens’ Familiendrama im RLT eine umjubelte Premiere. Besonderen Applaus gab es für Hauptdarstellerin Linda Riebau, die erst zehn Tage vor der Premiere für die erkrankte Claudia Felix eingesprungen war.

Mit „Harper Regan“ steht zum dritten Mal ein Drama des Briten Simon Stephens auf dem RLT-Spielplan. Stephens gehört zu den meistgespielten ausländischen Gegenwartsautoren auf deutschen Bühnen. Wie so oft geht es auch hier um eine kaputte Familie, um sprachlose Individuen. Doch anders als in seinen früheren Arbeiten zeigt er in „Harper Regan“ Ansätze für einen Neuanfang.

Alleinverdienerin Harper setzt ihren Job aufs Spiel, um den sterbenskranken Vater in einer anderen Stadt zu besuchen. Sie kommt zu spät, begegnet der verhassten Mutter (Hergard Engert). Doch die reservierte Frau trifft auch auf Fremde, schlägt einen Zyniker blutig und sucht sich einen One-Night-Stand, ehe sie zu Mann und Tochter zurückkehrt.

All dies spielt sich in einem einzigen Bühnenbild (Rahel Seitz) ab. Der Aufbau erinnert an aufgeschichtete Eisschollen, im Hintergrund sieht man eine Arktislandschaft. Vor allem bei den familiären Dialogszenen nutzt Regisseurin Bettina Jahnke dieses weiträumige Areal voll aus, macht die Distanz zwischen den Figuren sichtbar. Meterweit stehen sie voneinander entfernt, schauen sich nicht an, wechseln schlichte Sätze. All das kommt ganz ohne Emotionsausbrüche aus.

Erst allmählich fügen sich für den Zuschauer die Puzzlestücke zusammen. Warum ist die Familie aus dem alten Wohnort weggezogen? Weshalb darf Harpers Mann nicht arbeiten? Er ist wegen Kinderpornografie vorbestraft. Vielleicht nicht zu Unrecht, wie sich herausstellt.

Die Dynamik der Veränderung sitzt tiefer. Dass sich ein Gletscher unter jahrelang angesammeltem Druck in Bewegung setzt, weiß Harpers erwachsene Tochter Sarah (angemessen ruppig gespielt von Emilia Haag) vom Pauken für die Geografieprüfung. Doch ihr entgeht, wie sehr dies den emotionalen Zustand ihrer Mutter widerspiegelt. Erst zum Schluss kommen Mutter und Tochter ins Gespräch. Die Neusser Inszenierung setzt diese Wendung beeindruckend ins Bild: mit dem befreienden Moment, wenn ein Gletscher-Brocken abbricht und ins Meer stürzt.

“ Nächster Termin: Dienstag, 12. März, 20 Uhr

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