Mitteralterliche Stadtführung: Auf den Spuren von Hester Jonas

Helmut Wessels fasziniert Kinder mit Geschichten aus dem Neusser Mittelalter.

Neuss. Das Schwert und ein Trinkhorn am Gürtel befestigt, gekleidet ganz im schwarzen Mittelalterzwirn — so steht Helmut Wessels vor den Mauern des Obertors. Vor ihm etwa zwei Dutzend Kinder, die an seinen Lippen hängen. Was der Stadtführer zu bieten hat, ist besser als Fernsehen oder Playstation. Denn gleich wird er sie hineinführen ins mittelalterliche Neuss. Vorbei an alten Gemäuern, die Zeugen von Hexenprozessen, Folter und Hinrichtungen sind.

Die Kinderführung „Galgen, Kax und Hexenstuhl“ ist die letzte Aktion des Sommerferienprogramms von Neuss Marketing. Einige Kinder, die allesamt aus Neuss oder der näheren Umgebung kommen, kennen sich in der Stadt zwar aus, kommen aber zum ersten Mal mit ihrer Geschichte in Berührung. Die meisten aber kennen Namen wie den der „Hexe“ Hester Jonas und des Räuberhauptmanns Matthias Weber, genannt der Fetzer.

„Wir hatten in der Schule mal so ein Projekt, wo wir historische Orte in Neuss vorstellen sollten“, sagt Südstadt-Realschüler Philip (13). „Da hatte ich den Blutturm als Thema.“ Auch der ist eine Station der Tour.

Doch zunächst gilt es zu klären, wie alt Neuss denn nun eigentlich ist. 50 Jahre, schätzt ein Mädchen. 500, ruft ein Junge. „In Neuss waren schon die Römer, bevor Jesus geboren wurde“, sagt Wessels. „Es ist eine der ältesten Städte Deutschlands.“

Wessels zieht teilweise selbstgemalte Karten aus einer Ledermappe und zeigt den Kindern das mittelalterliche Neuss aus der Zeit, als die rund 5000 Einwohner noch innerhalb der alten Stadtmauern lebten.

Dann geht es zum Windmühlenturm am Stadtgarten. „Hier saßen die schlimmsten Verbrecher und warteten auf ihre Hinrichtung“, sagt Wessels. Zwei Mal war der Turm allerdings nicht sicher genug. Einen Fall kennen fast alle Neusser Kinder. Die Geschichte vom Fetzer, dem bekanntesten Räuberhauptmann des Rheinlands. Zweimal hatte er das Neusser Rathaus ausgeraubt, dann wurde er geschnappt und in den Windmühlenturm gesperrt. Der Fetzer floh, indem er aus dem Fenster kletterte und die Windmühlenblätter als Leiter nutzte. Sieben Meter musste er noch springen, dann war er frei. Sieben Jahre später wurde er in Köln hingerichtet.

Und dann Hester Jonas, die als Hexe angezeigt wurde. Die Kinder staunen nicht schlecht, als Wessels ihnen mit Hilfe seiner mitgebrachten Bilder am Blutturm erklärt, welche Foltermethoden man anwandte, um ein Geständnis aus der alten Hebamme herauszupressen. Gruselig, doch der Heimatkundler erzählt mit so viel Witz, dass es zu keinem Zeitpunkt zu schockierend für die Kinder wird.

Auf dem Weg vom Blut- zum Kehlturm spielt Wessels durch die an seinem Gürtel befestigten, in Säckchen versteckten Lautsprecher die Ballade der Hester Jonas ab. Die Kinder werden ganz still und folgen ihm schweigend. Im Kehlturm steht ein Nachbau des mit Eisennägeln gespickten Folterstuhls, auf dem die Frau mit dem roten Haar fast neun Stunden lang sitzen musste. „Frauen, die mehr wussten als Männer, hatten es damals nicht leicht“, erklärt Wessels.

Die Tour endet auf dem Münsterplatz, dem früheren Gerichtsplatz. „Die Führung war toll. Vieles wusste ich vorher nicht“, sagt Jule (10). Zwillingsschwester Hannah kann ihr da nur beipflichten. Und was heißt nun Kax? Das war der mittelalterliche Pranger. Der stand in Neuss auf dem Markt.

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